Terrence Etas Augen strahlen beim Blick auf das Puppenstubenhäuschen. „Davon kann ich nur träumen“ erzählt der Torontian, dessen kleine Firma Radtouren durch die 2,9-Millionen-Metropole am Lake Ontario organisiert.
Das Objekt der Begierde ist auch wirklich allerliebst anzusehen. In weiß und blau leuchten die Holzbalken, die Fensterumrandungen sowie der Sonnenschirm vor der einladenden Veranda. Hortensien, mit Blütenballen groß wie Kinderköpfe, gedeihen aufs üppigste. Uralte Bäume stehen Spalier.

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Torontos Skyline vor dem Fenster
Das schönste aber ist der Blick hinüber zur Skyline von Toronto – über das grau-blaue Wasser, das sich an klirrend-kalten Wintertagen unter Eisschollen versteckt. Die kanadische Metropole verändert tagtäglich ihr Gesicht und schießt Etage für Etage weiter in den Himmel.
Von der Hektik der Großstadt, der Lärm der Metropole, die nie zur Ruhe kommt, ist hier draußen nichts zu spüren. Nur die gestapelten Sandsäcke am Ufer künden davon, dass die Bewohner der kleinen Inselkette, bekannt als die „Toronto-Islands“ in stürmischen Nächten ganz schön nasse Füße bekommen.

Ein Dutzend Inselchen im Lake Ontario
Sie sind die Fluchtburg für gestresste Städter, das Refugium an heißen Sommertagen, das Dorado für Segler, Surfer und Sonnenanbeter: Das gute Dutzend Inselchen liegt halbkreisförmig in der ozeangleichen See. Die Namen der kleinen Eilande lauten Center, Ward’s, Algonquin oder Hanlan.
Im Juni und Juli, wenn eine mörderische Hitze über den Straßenschluchten rund um den 553 Metern hohen CN-Tower liegt, Torontos allgegenwärtiger Landmarke, strömen Alt und Jung zum Fährhafen am Queens Quay. Sie alle eint die Liebe zu den Inselzwergen, die durch Brücken, Stege und Wasserläufe miteinander verbunden sind.
Zwischen Katzen, Hunden, Waschbären und einer wachsenden Zahl von Kojoten leben rund 700 Menschen das ganze Jahr über. Einmal angekommen auf den autofreien Inseln, wo selbst Baumaterial und Großeinkäufe mittels Radanhänger transportiert werden müssen, zerstreuen sich die Besucher.

Zu Besuch auf den Toronto Islands
Ruhe suchende Großstädter schlendern über die von Bäumen, Blumenbeeten und Springbrunnen gesäumte Manitou Road. Radfans steuern den Gibraltar Point an, wo sich Kanadas zweitältester Leuchtturm in seinem frisch lackierten Kleid zeigt.
Junge Familien schätzen den kleinen Vergnügungspark mit Auto-Scooter, Mini-Achterbahn und Karussell sowie die benachbarte “Far Enough Farm”, deren Bewohner, Schweine, Rinder, Pferde, Schafe, Hühner, Kühe und Ziegen den „Winterurlaub“ auf dem Festland verbringen. Wassernixen und -männer lassen an einem der wenigen textilfreien Strände Kanadas ihre Hüllen fallen.
Abends kehren die Fähre dem Inselreich ihren Rücken zu. Dann versinken Center, Ward’s, Algonquin, Hanland und wie sie noch heißen in völliger Dunkelheit, während die Wolkenkratzer des Financial Districts am anderen Ufer wie ein festlich beleuchteter Christbaum erstrahlen.

Die Geschichte der Toronto Islands
Vor 200 Jahren waren die Toronto Islands noch der Wurmforsatz des Festlandes – erschaffen durch Sedimente der Scarborough Bluffs, den mächtigen Steilklippen am Ontariosee, die fortwährend der Erosion ausgesetzt sind. 1858 spülte ein schwerer Sturm die Landbrücke hinweg und die Toronto Islands wurden vom Festland angeschnitten.
Für die indigenen Völker wie die Mississauga und die Huronen war das Land ein heiliger Ort, den sie für Zeremonien und Bestattungen nutzten, aber auch zum Angeln und Jagen. Später erkannte Vizegouverneur John Graves Simcoe die strategische Bedeutung des Halbbogens.
Dort ließ er Lagerhäuser und einen Leuchtturm errichten, der fünf Jahrzehnte lang das höchste Gebäude der Stadt war. Gemeinsam mit den Kanonen von Fort York am gegenüberliegenden Ufer sicherte das Leuchtfeuer den Hafen Torontos, das mittlerweile Hauptstadt des jungen Staates war, weil Niagra Falls zu dicht an der Grenze zu den USA lag.

Ein Bayer als Leuchtturmwärter
Erster Wärter des steinernen Wächters am „Gibraltar Point“ war übrigens der aus Bayern stammende John Paul Radelmüller, der ursprünglich als Übersetzer und schließlich als Englischlehrer für neu ankommende Siedler gearbeitet hatte.
Radelmüller, ein Berg von einem Mann, kam unter mysteriösen Umständen ums Leben.
Deshalb erzählt man sich, dass er als Geist rund um den Leuchtturm herumspukt
erklärt Terrence Eta, während er zum jüngsten Strand der Insel radelt. Weil Wind und Wellen unablässig an Center & Co. nagen, weil ganze Stücke in stürmischen Nächten von der See verschluckt werden, müssen regelmäßig Millionen Tonnen Sand aufgespült werden, um das beliebte Ausflugsgebiet der Torontians zu sichern. 2017 war die Insel nach einem schweren Sturm komplett überflutet. Für Wochen waren die Inseln nicht erreichbar – zum Leidwesen der Paare, die eine Hochzeit im Grünen in der kleinen Inselkirche gebucht hatten.

Grünes Stadtviertel von Toronto
Schon im frühen 19. Jahrhundert ließen sich die ersten Kanadier hier nieder. Wohlhabende Bürger besaßen hier feudale Sommervillen. Die ersten Hotels öffneten ihre Pforten. Royale Jachtclubs sorgten für Zeitvertreib.
Die große Zeit der Inseln kam im 20. Jahrhundert, als die Wohnungsnot auf dem Festland immer größer wurde. Viele konnsten sich dort die horrenden Mieten nicht mehr leisten. Die Inseln, alles in allem 4,3 Kilometer breit und gut fünf Kilometer lang, entwickelten sich zur blühenden Stadt mit Wäschereien, Hotels, Friseursalons sowie Lebensmittel- und Baumärkten. 8000 Menschen lebten in den 1950er Jahren auf den Inseln; in den Sommermonaten kamen ein paar tausend Besucher dazu. Es gab Kinos, Kegelbahnen, sogar ein Casino.

Das grüne Quartier wird zum Park
In den 1950er Jahren war damit allerdings Schluss. Die Stadt Toronto erklärte das kleine Paradies offiziell zum Park. Was folgte war ein 30-jähriger Zermürbungskrieg zwischen Bewohnern, die nicht weichen wollten, und der Stadtverwaltung.
Mietverträge wurden nicht verlängert, Häuser abgerissen. Die meisten Bewohner wichen freiwillig, notfalls überzeugt durch die Aussicht auf eine Wohnung auf dem Festland. Ein paar Hundert Hartgesottene auf Ward’s und Algonquin Islands organisierten allerdings Sitzblockaden und Demonstrationen gegen den Zermürbungskrieg.
Vor Gericht fuhren sie zwar eine Niederlage nach der nächsten ein, doch schließlich kapitulierte die Stadt vor dem mutigen Starrsinn der Rebellen. Im Jahr 1993 wurden Pachtverträge über 99 Jahre geschlossen. 200 Häuser waren gerettet.

Toronto Islands als begehrte Wohnadresse
Neue kommen allerdings nicht hinzu. Deshalb muss Terrence Eta wohl seinen Traum von einem Puppenstubenheim mit unverbaubarer Aussicht auf die Skyline von Toronto begraben. Sollte mal tatsächlich eines der windgebeutelten Häuschen frei werden, sind zunächst die Erben am Zug. Unzählige Häuser sind seit Generationen in der Hand einer Familie.
Nur bei Nicht-Interesse entscheidet ein eigens gegründeter Trust über die Vergabe.
Freiwillig zieht hier kaum jemand weg
erzählt Elisabeth, deren Vater und Großvater schon auf Algonquin lebten. Auf dem freien Markt sind die Häuser nicht zu bekommen. Stattdessen müssen sich Interessenten auf einer Warteliste eintragen und hoffen, dass sie irgendwann auf Platz eins landen. Mittlerweile stehen 500 Namen auf der Liste.
Ein Paradies mit Schattenseiten
Wer sich für ein Leben auf den beiden bewohnten Inseln entscheidet, darf kein Weichei sein. Zugegeben, die autofreie Umgebung ist paradiesisch. Es gibt ein kleines Restaurant, wo fette Burger serviert werden. Es gibt große Clubhäuser für Gemeinschaftsveranstaltungen und sogar eine Schule, die fast so viele Schüler wie die Insel Einwohner hat.

„Viele Eltern auf dem Festland schicken ihre Kinder gern auf die Inseln, auch wenn der Schulweg umständlich ist – einfach weil sie hier gefahrlos spielen können“, erzählt Terrence Eta. An schönen Tagen picknickt Elisabeth mit ihren Nachbarn auf den grünen Wiesen oder steigt ins Kanu. Die schmalen Wasserstraßen liegen direkt vor der Haustüre.
Künstlerateliers in der alten Schule
Weil einige Inseln naturbelassen und zudem ein Vogelschutzgebiet sind, bekommen die Insulaner gefiederte Besucher zu Gesicht, die nicht einmal im Zoo von Toronto zu bewundern sind. In der alten Schule gleich beim Leuchtturm, wo nach der Schließung eine Art Landschulheim eingerichtet wurde, haben Künstler Ateliers eingerichtet.
Die Schattenseiten dieser Idylle: Alles, was gebraucht wird, muss per Fähre und Fahrradanhänger auf die Eilande geschafft werden – sei es der Großeinkauf aus dem Supermarkt, die sperrige Matratze oder der Ersatz für den alten Kühlschrank, der seinen Geist aufgegeben hat.

Unterwegs mit dem Lastenrad
Die teuren und komplizierten Anträge für LKW-Fahrten füllt kaum ein Bewohner aus, weshalb lediglich Müllfahrzeuge, Schulbus sowie ein Schneepflug auf den Inseln unterwegs sind. „Wer ein Stück Seife, Windeln oder eine Tüte Zucker vergessen hat, der muss eben bis zum nächsten Einkauf warten oder den Nachbarn um Hilfe bitten“, erzählt Elisabeth, deren wichtigstes Transportmittel das schon etwas bejahrte Lastenfahrrad ist.
Am Schlimmsten – oder je nach Blickwinkel: am Schönsten – ist es im Winter, wenn dicke Eisschollen auf dem Ontariosee treiben und die Fähren nicht mehr stündlich verkehren. Dann rücken die Bewohner der Toronto Islands noch ein wenig enger zusammen. Sie genießen die im eisigen Griff erstarrte Natur und freuen sich auf den nächsten Sommer, wenn wieder Tausende zu Torontos grüner Lunge wollen.

Was du über die Toronto Islands wissen musst….
Anreise nach Kanada: Zahlreiche Fluggesellschafen wie Aircanada oder Lufthansa fliegen zum Pearson Airport von Toronto. Nonstop geht es mit Air Canada oder Lufthansa ab Frankfurt oder München. Hin- und Rückflüge gibt es ab 600 Dollar.
Fähren zu den Toronto Islands: An der Queens Quay fahren die Fähren zu den Toronto Islands ab. Tickets können direkt am Terminal gekauft werden. Es gibt das ganze Jahr über Verbindungen zu den drei Hauptinselgruppen Ward’s Island, Center Island und Hanlan’s Point. Die Inseln sind alle miteinander verbunden, sodass man von einer zur anderen laufen kann. Die Hauptattraktionen und die meisten Aktivitäten für Kinder finden auf Center Island statt. Am Pier auf Center Island gibt es zudem einen Fahrradverleih.
Übernachten: Hotels in Downtown Toronto sind kein Schnäppchen. Realistischerweise muss man mit 300 Dollar pro Nacht und Zimmer in einem Drei-Sterne-Hotel rechnen. Das Frühstück kommt extra. Wer in einer Hotellegende wie dem Fairmont Royal York übernachten möchte, zahlt rund 500 Dollar die Nacht und Zimmer. Es empfiehlt sich, die Preise auf verschiedenen Buchungsportalen zu vergleichen.
Unterwegs in Toronto: Fast alle Sehenswürdigkeiten können zu Fuß erreicht werden. Wer auch mal die Außenbezirke erkunden möchte, kann sich einen Tagespass für U-Bahnen, Tram und Busse kaufen. Er kostet 13.50 kanadische Dollar und wird in den U-Bahn-Stationen verkauft. Ein Einzelticket kostet 3,30 kanadische Dollar.
Strände auf Toronto Island: Zwei von drei Stränden (Hanlan’s Point Beach und Ward’s Island Beach) erhielten die Blaue Flagge, eine internationale Auszeichnung für Strände mit guter Wasserqualität und umweltbewusster Bewirtschaftung. Im Sommer wird die Wasserqualität täglich getestet.
Touren: Langjährige Inselbewohner bieten im Sommer Führungen an und erklären, wie es sich in dem Park lebt – ohne Geschäfte oder Autos. Führungen gibt es dienstags, donnerstags und samstags. Die Teilnahme kostet 20 US-Dollar.