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Der Edgewalk: auf schmalem Grat über den Dächern Torontos

Skyline von Toronto

Ein bisschen Adrenalinkick gefällig? Das können Wagemutige auf Torontos CN-Tower in 356 Metern Höhe erleben. Das Zauberwort heißt Edgewalk und ist einzigartig auf dem amerikanischen Kontinent.

Nervenkitzel in 356 Metern Höhe

„Das ist eure letzte Chance“: Michaels Ankündigung klingt todernst. Dabei möchte der Kanadier nur, dass ich Ohrringe und Armbanduhr ablege. Mein Herz ist angesichts des 553 Meter hohen CN-Towers, Torontos allseits präsenter Landmarke, ohnehin schon in die Hose gerutscht.

Die Videos und Bilder, die ich zur Einstimmung auf das anstehende Abenteuer konsumiert habe, trugen auch nicht zur Senkung des Blutdrucks bei. Doch als Hosenschisser will ich mich nicht outen. Was Brian May, Jada Pinkett Smith, Richard Branson und zigtausend andere Normalsterbliche geschafft haben – darunter eine rüstige 90-Jährige, die sich den „Ausflug“ zum Geburtstag schenken ließ -, kann doch kein Hexenwerk sein.

Also rein in den knallig roten Overall, das gelbe Klettergeschirr festzurren und 116 Stockwerke hinauf – zum Edgewalk in 356 Metern Höhe am höchsten Bauwerk der westlichen Hemisphäre.

Der Edgewalk: ultimativer Kick für Adrenalinjunkies

Werbestrategen haben den halbstündigen „Spaziergang“ über den knapp eineinhalb Meter breiten Sims als „Next-Level-Thrills“ gepriesen – was man mit dem ultimativen Kick für Adrenalinjunkies übersetzten könnte.

Nur dass ich definitiv kein Adrenalinjunkie bin. Die mutigen Bungeejumps liegen schon ein paar Jahrzehnte zurück, heute beschränken sich meine Heldentaten auf gemütliche Fahrradtouren in flachem Terrain.

In mir macht sich Panik breit angesichts der Zugbänder und Drahtseile, an denen in der nächsten halben Stunde mein Leben hängen wird. Das Wetter will auch nicht so richtig mitspielen bei diesem Nervenkitzel: Es ist lausig kalt hier oben, es nieselt fies und zu allem Überfluss pfeift ein ordentlicher Wind um den Turm.

Skyline von Toronto
Unübersehbar: der CN-Tower in Kanadas wichtigster Metropole, Toronto

Torontos Wahrzeichen: der CN-Tower

Erbaut wurde der Fernsehturm, der wie ein überdimensionierter Spargel aus den Wolkenkratzern des Financial Districts herausragt, Anfang der 1970er Jahre. Als der Sendemast nach 40-monatiger Bauzeit fertig war, wurde er schnell zum Schauplatz aller möglichen Aktivitäten.

Freeclimber kletterten am Fahrstuhlschacht empor; Filmemacher – vorwiegend aus den USA – nutzten den Turm für waghalsige Stunts; Greenpeace-Aktivisten machten hier auf den Klimawandel aufmerksam. 2015 sprangen zwei französische Basejumper von der Spitze des Fernsehturms.

Der Allgegenwärtige hat es auf Briefmarken und Münzen geschafft und ist das bevorzugte Objekt der Gewitterforschung – schließlich wird er jedes Jahr durchschnittlich von 75 Blitzen getroffen.

Nach oben geht es im Panoramaaufzug

Für Toronto, Mittelpunkt der „Golden Horseshoe“-Region mit über neun Millionen Einwohnern, ist der CN-Tower der touristische Hotspot. Schon am frühen Morgen strömen die Touristen, um in sagenhaften 58 Sekunden im Panoramaaufzug lautlos nach oben zu schweben.

Informationen über den CN-Tower in Toronto
Das Display beim Panoramaaufzug macht wenig Lust auf den Edgewalk.

Sie drücken sich die Nasen am Glas der Aussichtsplattform platt. Sie speisen im nicht ganz billigen rotierenden Gourmettempel und erfreuen sich am gut bestückten Weinkeller, der vom Guinness Buch der Rekorde 2006 zum höchstgelegenen der Welt gekürt wurde.

Die Zeitkapsel, eingelassen in die Wand unterhalb der Aussichtsplattform und bestückt mit Briefen kanadischer Schulkinder, Tageszeitungen, Münzen sowie einem Video über die Konstruktion des Sendemastes – bleibt allerdings verschlossen. Dieses Archiv soll exakt 100 Jahre nach der Einweihung des Turm am 1. Oktober 2076 geöffnet werden.

50.000 “Edgewalker” im Jahr

Nach gefühlt zwei Stunden Vorgeplänkel geht es ans Eingemachte. Glücklicherweise versucht Sarah, eine Art Drill Instructor mit blonden Gretchenzöpfen, mir und all den anderen Ängstlichen der sechsköpfigen Gruppe eine doppelte Portion Mut einzuimpfen.

Edgewalker am CN-Towere in Toronto
Nichts für Angsthasen: der Edgewalk auf dem CN-Tower in Toronto

Immerhin gibt es den etwas anderen Panoramaspaziergang über den Dächern der 2,9-Millionen-Metropole schon seit über einem Jahrzehnt. Vor Corona waren es bis zu „50.000 Edgewalker“ im Jahr und auch an diesem Tag sind alle Touren ausgebucht.

Es ist noch nie etwas passiert

betont die junge Kanadierin, wobei sie das Wort Absturz tunlichst vermeidet. Aber gibt es nicht bei allem das erste Mal?

Für einen winzigen Augenblick liebäugle ich damit, das Handtuch zu werfen. Vielleicht hätte ich mich besser zum zweimal jährlich ausgetragenen Treppenlauf anmelden sollen. 1776 Stufen sind zwar auch kein Pappenstil, aber immer noch besser als dieser Wahnsinn über den Wolkenkratzern. Zudem kommt die Teilnahmegebühren der 20.000 Läufer einem guten Zweck zu Gute.

Während Sarah und ihr Team Karabiner und den richtigen Sitz des Klettergeschirrs prüfen, bestimmt zum vierten oder fünften Mal, blicke ich mich verstohlen nach einem Fluchtweg um – leider vergeblich. „Ihr macht nur, was ihr möchtet“, betont die junge Kanadierin. Sie habe noch nie jemanden erlebt, der im letzten Moment gekniffen habe, erklärt sie mit strahlendem Lächeln – was den Druck auf mich nochmals erhöht. Denn auch da gilt: Man möchte nicht die Erste sein.

Edgewalker am CN-Tower in Toronto
So sieht es aus, wenn Edgewalker den CN-Tower umkreisen

Toronto aus der Vogelperspektive

Schon bei den ersten Schritten hinaus auf das Metallgitter ohne Geländer nähert sich mein Herzschlag einer kritischen Marke. Die Füße kleben am Sims, die Hände sind schweißnass, die Nackenhaare gestellt. Fast krampfhaft klammert sich mein Blick am Lake Ontario fest, der von hier oben wie ein endloses, graues Leichentuch wirkt.

Nach unten wage ich schon gar nicht zu blicken, denn die gigantischen Wolkenkratzer sind zu Spielzeuggröße geschrumpft- wie Zutaten für Little Canada, das Miniaturwunderland in der Dundas Street, wo Klein und Groß in wenigen Schritten durch Toronto, Ottawa und Québec spazieren können. An schönen Tagen soll man von hier oben sogar die Gischtfahne der Niagara Fälle sehen können, doch der grauverhangene Himmel verschluckt die Außenbezirke der Stadt.

Was mir entgeht sind Einblicke in das Leben von Downtown Toronto. Weiß-grün gestrichene Züge rollen in der Union Station mit ihrem säulengeschmückten Haupteingang ein. An der Waterfront legen die Fähren zu den vorgelagerten Toronto Islands ab, die eine grüne Oase mitten in der Stadt sind. Gleich daneben ist die schneeweiße Muschel des Rogers Centers zu erkennen. Hier kämpfen die Blue Jays aus der Baseball-Major-League um Punkte; hier bringt Justin Bieber seine vorwiegend weiblichen Fans zum Kreischen.

Edgewalker am CN-Tower in Toronto
Winke-Winke für das Erinnerungsfoto an den Edgewalk.

Leibesübungen über den Dächern von Toronto

Schrittchen für Schrittchen kämpfe ich mich voran, den Blick am Overall des Vordermannes fixiert, die Hände am Seil festgetackert. Dass eine halbe Stunde Edgewalk in schwindelerregender Höhe so lange werden kann?

Dass es nicht bei der bloßen Umrundung des Turmes bleiben wird, war zu befürchten – schließlich geht in Nordamerika kein Event ohne große Show über die Bühne. Wir sollen uns – natürlich gut gesichert – über die Kante lehnen und dem Abgrund ins Auge blicken. Mal in Rückenlage, mal das Gesicht nach unten gerichtet.

Von Trockenübungen scheint Sarah nicht viel zu halten – also runter in die Knie, mit halbem Fuß über die Kante rutschen und sich gemütlich aufrichten, um über dem Abgrund zu schweben. Die beiden Amerikaner, die bestimmt als Stuntleute in Katastrophenfilmen ihr Geld verdienen, scheinen in ihrem Leben nie etwas anderes gemacht zu haben.

Mir wird bereits bei der Vorstellung kotzübel. Immerhin wage ich es, mich im Schneckentempo Richtung Kante zu bewegen und die festgetackerte Hand für ein kurzes Winke-Winke loszueisen. Glücklicherweise bin ich nicht der einzige Hasenfuß der Gruppe, der den Dienst verweigert.

Skyline von Toronto
Der CN-Tower dominiert die Skyline von Toronto.

Der Edgewalk: Videos und Fotos zur Erinnerung

Den Beweis für meine mutige Großtat kann ich anschließend am Ticketschalter abholen – Fotos und ein Video vom Edgewalk sind im nicht ganz billigen Ticketpreis inbegriffen. Den Lieben daheim fällt angesichts meines Heldenmuts die Kinnlade herunter. Als urkundlich ausgewiesene Edgewalker muss ich ja nicht erzählen, dass ich zwischen Himmel und Erde die Hosen ganz schön voll hatte.

Wie kommst du nach Toronto

Zahlreiche Fluggesellschafen fliegen zu Torontos Pearson Airport. Nonstop geht es mit Air Canada oder Lufthansa ab Frankfurt oder München. Hin- und Rückflüge gibt es ab 600 Dollar.

Übernachten in Toronto

Hotels in Downtown Toronto sind kein Schnäppchen. Realistischerweise muss man mit 300 Dollar pro Nacht und Zimmer in einem Drei-Sterne-Hotel rechnen. Das Frühstück kommt extra. Wer in einer Hotellegende wie dem Fairmont Royal York übernachten möchte, zahlt rund 500 Dollar die Nacht und Zimmer. Es empfiehlt sich, die Preise auf verschiedenen Buchungsportalen zu vergleichen.

Unterwegs in Toronto

Fast alle Sehenswürdigkeiten können zu Fuß erreicht werden. Wer auch mal die Außenbezirke erkunden möchte, kann sich einen Tagespass für U-Bahnen, Tram und Busse kaufen. Er kostet 13.50 kanadische Dollar und wird in den U-Bahn-Stationen verkauft. Ein Einzelticket kostet 3,25 kanadische Dollar.

Was kostet der Edgewalk

Es gibt unterschiedliche Tickets für den Besuch des CN-Towers. Wer nur das Observation Deck in 346 Metern Höhe besuchen möchte, zahlt 43 kanadische Dollar. Für Jugendliche zwischen sechs und 13 Jahren kostet es 30 kanadische Dollar.

Auf 447 Metern liegt der Skypod, die höchstgelegene Aussichtsplattform der westlichen Hemisphäre. Das Kombiticket kostet 53 kanadische Dollar bzw. 40 kanadische Dollar.

Tickets für den Edgewalk sind ab 195 kanadischen Dollar zu haben. Der Preis richtet sich nach Tag und Zeit. Da die Touren häufig ausgebucht sind, ist eine frühzeitige Online-Buchung sinnvoll.

  1. Hi Roswitha,

    Sehr unterhaltsam und spannend erzählt. Auch wenn die Sache für sich schon spannend ist. 😮
    Fast am beeindruckensten finde ich aber dieses Zitat: “Sie habe noch nie jemanden erlebt, der im letzten Moment gekniffen habe …”. Ob das nicht nur ein kleiner Motivationstrick ist … 😉

    Liebe Grüße
    Dennis

    • Hallo Dennis, will ich nicht ausschließen. Es war jedenfalls eine ziemliche Herausforderung. Und wenn das Wetter besser gewesen wäre, hätte es mir wahrscheinlich auch Spaß gemacht.

  2. Hallo Roswitha,

    meine Güte, Du bist ganz schön mutig! Wo es geht, schaue ich mir auch gerne Städte von oben an und genieße die Aussicht. Aber für diesen Nervenkitzel ist meine Höhenangst definitiv zu groß.
    Trotzdem sehr spannend, von Deinem Abenteuer zu lesen.

    Liebe Grüße, Sabine

  3. Oh wow wie krass! Ich weiß nicht, ob ich mich das trauen würde 😉 ich finde das Bild mit der kanadischen Flagge total toll, hat was! Lg, Meike

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