Urlaub im Harz? Da hätten sich mir bis vor wenigen Jahren die Nackenhaare gesträubt. Zu dem Mittelgebirge im einstigen deutsch-deutschen Niemandsland fielen mir nur Kegelklubs auf Jahresabschlussfahrt, in die Jahre gekommene Wanderer in karierten Knickerbockern und verschlafene Kurorte ein, die mit Blasmusik und Biskuitkuchen um nicht mehr ganz taufrische Urlauber werben. Kurzum: Auf der Messlatte für Spießigkeit nahm der Landstrich im Drei-(Bundes-)Länder-Eck von Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen einen Spitzenplatz ein.
Doch mittlerweile gehöre ich selbst zu jener Gruppe in die Jahre gekommener Wanderer, die
a) weder dezibelstarkes Remmidemmi noch
b) nervende Rundumbespaßung bracht. Dass mein von jugendlicher Selbstüberhöhung getrübter Blick auf das kleine Reich im Herzen Deutschlands überdenkenswert ist, merkte ich schon kurz nach der Wende – als ich auf der Heimfahrt von Berlin unversehens in Quedlinburg landete.
Inhaltsverzeichnis
Welterbe im Harz
Die großen, braunen Schilder, die auf den Welterbestatus der Stadt hinweisen, gab es damals noch nicht. Wahrscheinlich existierte nicht einmal die A 36, deren mustergültiger Zustand bei jedem Holperstrecken gewohnten „Wessi“ Neidgefühle weckt. Doch dass der Neuzugang deutscher Städteherrlichkeit etwas ganz Besonderes ist, zeigte sich mir schon damals.
Quedlinburg: ein Museum mit 2000 Fachwerkbauten
Wobei ungläubiges Staunen und abgrundtiefes Entsetzen ziemlich nahe beieinander lagen. Mit mehr als 2000 Fachwerkhäusern aus acht Jahrhunderten hat Quedlinburg zwar mehr historische Bauten als jede andere Stadt Deutschlands, wahrscheinlich der Welt. Doch nach der Wende, als Quedlinburg zerfressen von Schwamm und 40 Jahren DDR-Schlendrian in den Trümmern seiner eigenen, tausendjährigen Geschichte lag, war dieses lebende Museum in einem erbarmungswürdigen Zustand.
Beklagenswerter Zustand zu Wendezeiten
Die alten Machthaber mit ihrem Traum von einem gleichmachenden Arbeiter- und Bauernstaat und ihrem unerschütterlichen Glauben an Rundum-Überwachung ihrer Untertanen hatten zwar mit dem Abriss vieler alter Häuser begonnen. Doch glücklicherweise ging ihnen das Geld aus; glücklicherweise kam ihnen das „Wir sind das Volk“ in die Quere.
Einige Neubauten aus Beton-Fertigteilen am Rande der Altstadt mussten zwar den Fachwerk-Look imitieren, doch gottlob blieben solch architektonische Todsünden auf wenige Straßenzüge beschränkt. Der Rest ist Mittelalter pur, ein Ort voll geballtem Charme.
Sanierung ist eine Aufgabe von Generationen
Was mir besonders gefällt: Nicht an jeder Ecke sieht es aus wie in einem Bilderbuch für Träumer. Im Gegensatz zu anderen schönen Harzstädten – wie zum Beispiel dem nahen Wernigerode, das einem Freiluftmuseum gleicht – ist Quedlinburg ursprünglicher, spröder. Was Wunder, schließlich ist die Sanierung von 2000 heruntergekommenen Fachwerkhäusern eine Aufgabe für Generationen. In der 25 000-Seelen-Stadt stehen liebevoll sanierte Bauten neben Fachwerkruinen. Hier grenzen prachtvolle Fassaden an bröckelnden Putz. Alt und neu geben sich die Hand, so wie eh und je.
Kluges Häuser-Recycling
Für ’n Appel und ’n Ei waren die windschiefen Holzständer-Bauten nach der Wende zu haben. Es war die Zeit des großen Ausverkaufs, als Finanzjongleure und Spekulanten in Champagnerlaune gen Osten zogen und ganze Straßenzeilen für ein Trinkgeld verscherbelt wurden. Auch die Harzstadt brauchte Investoren für das abgewirtschaftete Erbe, verband den Verkauf aber mit der Auflage, die Relikte der Vergangenheit in den nächsten Jahren zu sanieren.
Fenster und Türen aus dem Depot
Eine vorausschauende Regelung. In Quedlinburg gab es ein paar schlaue Köpfe, die Recycling betrieben, bevor das Wort überhaupt modern wurde. Sie riefen das Depot für historische Baustoffe ins Leben.
Dort – und nicht etwa im Müll – landete alles, was bei der Sanierung der maroden Kästen nicht mehr gebraucht wurde: Türen, Fenster, Mauersteine, Dachziegel und Altholz. Über Jahre wurde das Baumaterial geborgen, verwahrt, katalogisiert und unentgeltlich an den Bauherren abgegeben. Der musste lediglich für Transport und Aufarbeitung seines historischen Schätzchens aufkommen. Wie viele Türen sich an neuen Orten öffnen? Keine Ahnung. Aber ein paar Hundert werden es schon sein.
“Beispiel für eine mittelalterliche Stadt”
Ich verliebe mich Hals über Kopf in dieses Konglomerat aus Alt und Neu und befreie mich schon an der Hoteltür von meinen Harz-Vorurteilen. Quedlinburg sei ein „außergewöhnliches Beispiel für eine mittelalterliche Stadt“, urteilte die Unesco und nahm es 1994 in die Welterbe-Liste auf.
Üppig verzierte Fachwerkbauten reihen sich an den schmalen Gässchen auf, deren Kopfsteinpflaster nichts für High-Heels vernarrte Weibsbilder ist. In zweiter Reihe tummeln sich windschiefe Häuser in blättrigem Grau, deren ziselierte Fachwerkgiebel nur noch ansatzweise einstige Buntheit erahnen lassen. Die Balken sind so krumm und schräg, als hätten sie sich unter der Last der Jahrhunderte gebeugt.
Die Türme von Sankt Blasii, Sankt Benedikti, Sankt Aegidii und Sankt Nikolai wuchten sich in den Himmel, und hoch überm Dächermeer thront Sankt Servatius; die Stiftskirche wird oft als Dom bezeichnet, obwohl das Gotteshaus nie eine Bischofskirche war. Überall dazwischen liegen lauschige Plätze und hübsche Brunnen. Es ist, als wären wir in eine Zeitkapsel gestiegen und in jener Epoche gelandet, als Quedlinburg Kaiser und Könige kommen und gehen sah.
Quedlinburg und seine Geschichte
Ein König namens Heinrich
69 sollen es im Lauf von drei Jahrhunderten gewesen sein, wie der Stadtführer auf seinem Weg vom efeubewachsenen Renaissance-Rathaus zum stadtbildprägenden Schlossberg erzählt. Es ist eine hübsche Legende, dass der Sachsen-Herzog Heinrich hier im frühen 10. Jahrhundert die Königswürde angetragen bekommen haben soll: am Finkenherd, echt froh und wohlgemut, wie Johann Nepomuk Vogls Ballade dokumentiert:
Da blickt Herr Heinrich tief bewegt hinauf zum Himmelszelt. Du gabst mir einen guten Fang! Herr Gott, wie Dir’s gefällt.
Zu lesen gibt es die populären Reime auf einer Hausfront am Finkenherd, einem malerischen Platz zu Füßen des Schlossbergs, der mir vor allem wegen seiner Cafédichte in Erinnerung bleiben wird.
Da stört es auch nicht, dass Historiker dem guten Heinrich seine Sonderstellung als erster Deutscher König absprechen. Die Quedlinburger lieben ihn trotzdem, ihn, dem die Nachwelt den Beinamen „Heinrich der Vogler“ verliehen hat. Er kürte den unbedeutenden Flecken zu seiner Lieblingspfalz. Ihm verdankte der Ort den Aufstieg zur wichtigsten Metropole des Reiches.
Himmler missbraucht den Namensvetter
Seine Überreste ruhen neben seiner Gemahlin Mathilde in der Krypta der Quedlinburger Stiftskirche auf dem Burgberg. Tausend Jahre später stilisierte Himmler den königlichen Namensvetter zum idealistischen Germanenführer hoch und missbrauchte die Stiftskirche als SS-Weihehalle.
Mathilde: Gründerin des Damenstifts
Die heiliggesprochene Mathilde war für Quedlinburg fast ebenso wichtig wie ihr Gemahl. Nach seinem Tod gründete die Königin auf dem Schlossberg ein Damenstift, wo die unverheirateten Töchter adliger Familien durchaus kommod lebten. 1802 endete die Weiberherrschaft von Quedlinburg. Napoleon ließ das Damenstift schließen und schickte die letzte Äbtissin aus dem schwedischen Königshaus heim in den hohen Norden.
800 Jahre Weiberherrschaft in Quedlinburg
Ganz konfliktfrei scheint das Miteinander von adligem Damenstift und aufstrebendem Bürgertum nicht gewesen zu sein. Davon zeugt Quedlinburgs gute Stube, der Marktplatz. Nicht etwa die gute Mathilde wacht über das Rathausportal, sondern Abundantia, die römische Göttin des Wohlstandes.
Der Markt: Quedlinburgs gute Stube
Zu ihren Füßen steht steif der Roland, mit 2,75 Metern ein ziemlicher Winzling im Vergleich zu seinem Bremer Vetter. Vermutlich wurde die Ritterfigur mit erhobenem Schwert und Schild kurz nach Quedlinburgs Beitritt zur Hanse aufgestellt. Nur wenige Jahre später wurde sie auf Veranlassung der Äbtissin zerstört. Die Reste lagen fast 400 Jahre unentdeckt im Hof des ehemaligen Ratskellers, bis der damalige Bürgermeister Gustav Brecht, ein Barrikadenkämpfer der 1848er Revolution, dem Ronald einen neuen Platz zuwies.
Wenn die letzten Geschäfte schließen, herrscht eine magische Stimmung in dem altdeutschen Fachwerktraum mit geschnitzten Balkenköpfen, Andreaskreuzen, Drudenfüßen, Fächerpalmetten und Brüstungssonnen. Die Gildehäuser der Gerber und Schuhmacher erzählen von mittelalterlichen Steuersparmodellen. Am Rathaus erstrahlt das riesige Glasfenster, als wäre man in einer gotischen Kathedrale gelandet. Und im Gasthaus „Zum Bär“ lassen sich die Gäste die Quedlinburger Aufschnittplatte mit Spezialitäten aus dem Harz schmecken.
Der “Bär”: wo schon Goethe nächtigte
Der massive Barockbau mit seiner streng gegliederten Fassade ist nicht zu übersehen. Bereits 1748 wurde er als „Beherbergungs- und Logierbetrieb“ konzessioniert und war in ganz Preußen für seine vorzügliche Küche bekannt. Der Dichter Julius Wolff, Vater des „Rattenfängers von Hameln“ und Ehrenbürger von Quedlinburg, hat in dem Gebäude das Licht der Welt erblickt. Dichterfürst Goethe soll im „Bär“ genächtigt haben, ebenso Heine und Fontane. In neuerer Zeit trugen sich Otto Waalkes, Matthias Reim, Xavier Naidoo und Wolfgang Stumph ins Gästebuch ein. Und natürlich das bayerische Schwergewicht Ottfried Fischer.
Der Bulle von Tölz auf Verbrecherjagd im beschaulichen Harz? Fischer habe bei seinen abendlichen Streifzügen durch Quedlinburger Lokale ganz schön gebechert und eine Saalrunde nach der anderen geschmissen, erzählt der Stadtführer. Nicht die einzige Anekdote zu dem Schauspieler. Es braucht schon etwas Fantasie, um sich vorzustellen, wie sich der Zwei-Meter-Mann mit ordentlich Leibesfülle durch den dunklen Gang gequetscht hat. Zur Sicherheit habe man die schmalste Gasse Quedlinburgs mit Butter eingestrichen.
Hölle, Pölle, Klink und Stieg
An die Geschichte mag ich nicht so recht glauben. Doch eng geht es auf dem Weg zum Schuhhof tatsächlich zu, wo einst Lederwaren verkauft wurden. Von Hauswand zu Hauswand sind es kaum mehr als ein Meter, und auch ich ziehe vorsichtshalber den Kopf ein. Und wundere mich über die seltsamen Namen für die dortige Gaststätte und die benachbarte Herberge. In der „letzten Quelle vor der Hölle“ lässt es sich bechern, im „Vorhof zur Hölle“ nobel nächtigen. Die echte Hölle, ein schmales Gässchen, folgt nur ein paar Schritte weiter.
“Hollywood im Harz”
Angesichts solcher Fachwerkidylle kürten Filmemacher Quedlinburg zum „Hollywood im Harz“. Vor der Kulisse des Weltkulturerbes entstanden rund 60 Filme – Abenteuerstreifen, Literaturverfilmungen, Dokumentationen sowie Kinder- und Märchenproduktionen. 1954 wurde hier die Novelle „Pole Popenspäler“ von Theodor Storm verfilmt. Später kam Otto Waalkes für „7 Zwerge“ und Moritz Bleibtreu für „Goethe!“. Alte Quedlinburger, die als Statisten Filmerfahrung sammelten, erinnern sich an so manche Geschichte, an so manche Anekdote: Weil es an Geld mangelte, mussten beim Bürgerkriegsdrama „Fünf Patronenhülsen“ die Felsspitzen der Harzer Teufelsmauer weiß angemalt werden, um die schneebedeckten spanischen Berge zu simulieren.
Quedlinburger als Statisten
„Keine gefärbten und gesträhnten Haare, keine Piercings oder sichtbaren Tattoos, keine künstlichen Fingernägel“: Bei der Suche nach 400 Komparsen für den Film „Goethe!“ gab es klare Forderungen. Für die Außenaufnahmen wurde der Stadtkern auf alt getrimmt: Straßenschilder wurden abmontiert, Autos verbannt und das sonst blitzblank geputzte Pflaster mit Tonnen von Matsch bedeckt.
Auf dem Weg zum Schlossberg lässt sich die Sonne blicken, als gelte es, die letzten Vorurteile gegenüber dem Harz zu verscheuchen. Wir wandern durch Hölle, Pölle, Klink und Stieg, genießen das Bier im Brauhaus Lüdde (dem einzigen, das von einst 100 Brauereien übrig geblieben ist) und schlagen uns in der historischen Baumkuchenmanufaktur den Magen voll. So atemberaubend das Renaissanceschloss und die Stiftskirche St. Servatii auf dem steil abfallenden Sandsteinfelsen liegen: Mein Favorit ist der Münzenberg.
Quedlinburgs schönster Stadtteil: der Münzenberg
Liegt es an den vielen Treppen, die hinaufführen? Am Fehlen bedeutender Sehenswürdigkeiten? Am Mangel an Cafés und Restaurants? Eine Million Besucher sollen im Jahr durch die mittelalterlichen Gassen Quedlinburgs schlendern. Auf dem Münzenberg habe ich keine gesehen. Dabei gibt es in ganz Quedlinburg keinen besseren Platz für ein Foto vom Schlossberg und dem Harzvorland als von diesem zweiten sprichwörtlichen Höhepunkt.
Früher war dieser romantische Stadtteil mit seinen 65 meist zweistöckigen Fachwerkhäusern nicht unbedingt die beste Wohnadresse. Seit dem 16. Jahrhundert siedelten hier fahrende Leute, Musikanten und unzünftige Handwerker – sprich soziale Randgruppen. Als Brauch wurde Neugeborenen angeblich eine Trompete oder eine Münze über die Wiege gehalten. Griff das Kind nach der Trompete, war die Karriere als Musikant garantiert. Griff es nach der Münze, war es fortan als Dieb unterwegs.
Heute sind die Fachwerkhäuser auf dem Münzenberg allesamt restauriert, und die Besitzer sind weit weg von der Welt „sozialen Gesindels“. Kübel und Pflanzenbeete ersetzen fehlende Gärten. In den Häusern gibt es hübsche Ferienwohnungen, und lauffreudige Bewohner sparen sich das Fitnessstudio. Platz gibt es oben allenfalls für kleine Autos.
Advent in den Höfen
Sollte ich mal wieder nach Quedlinburg kommen, so werde ich mir den Advent aussuchen. Vorausgesetzt ich mag drei, vier Jahre im Voraus planen. Denn in der Vorweihnachtszeit, wenn sich die sonst nicht öffentlichen historischen Innenhöfe in heimelige Stuben voller Raritäten und kleiner Kostbarkeiten verwandeln, platzt Quedlinburg aus allen Nähten, sind Hotels, Gasthöfe und Ferienwohnungen komplett ausgebucht. Wer „Advent in den Höfen“ erleben möchte, muss ins Umland. Denn das Konzept hat im Harz etliche Nachahmer gefunden
Dass der Harz ein ziemlich unterschätztes Urlaubsgebiet ist, habe nicht nur ich festgestellt. Andrea von Indigoblau hat zahllose unglaubliche Orte im Harz entdeckt. Absolut lesenswert!
Vielen Dank für den Streifzug durch meine alte Heimat! So etwas liest man immer wieder gern! Ich selbst habe sogar in der Hölle gewohnt 🙂
Beste Grüsse
Torsten
Lieber Torsten,
lieben Dank für deinen Kommentar. Je älter ich werde, desto mehr stelle ich fest, was für schöne deutsche Städte es gibt. Man muss wirklich nicht immer weit reisen, um echte Perlen zu entdecken.
[…] Über den Fachwerktraum Quedlinburg schreibt Bruder auf Achse […]
[…] Seit einigen Jahren legen wir auf der Fahrt zur Fähre nach Travemünde einen Zwischenstopp ein. Wir steuern Orte nahe der Autobahn an, die wir normalerweise kaum auf dem Schirm haben. Vor einigen Jahren landeten wir auf diese Weise in Quedlinburg, dem Fachwerktraum im Harz. […]