Karlsbad im Winter: Nur eine Handvoll Passagiere haben sich in die Seilbahn zum Aussichtsturm Diana verirrt, der seit über 100 Jahren auf der Freundschaftshöhe direkt über dem Zentrum thront. Das beliebte Ausflugslokal, wo in der wärmeren Jahreszeit kaum ein freier Platz zu ergattern ist, hat geschlossen; das Schmetterlingshaus sowie der Minizoo, der Favorit aller Kinder, sind verwaist.
Ein schmuckloses Schild am Werk des Architekten Anton Breinl verkündet, dass der Aufzug außer Betrieb ist. Wer Karlsbad, die Kurlegende am Fluss Tepla, aus der Vogelperspektive erleben möchte, muss notgedrungen die 150 Stufen hinaufkraxeln.
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Karlsbad: wo Kaiser, Könige und Kulturschaffende kurten
Oben angekommen fegt eine steife Brise den Kletterer beinahe von der Aussichtsplattform. Dicke Schneewolken hängen über den Hügeln des Erzgebirges, die sich im Westen auftürmen. Ein düsterer Himmel, grau wie ein Leichentuch, spannt sich über das Flusstal und nur im Süden, wo eine der malerischsten Bahnstrecken Tschechiens durch den wahrlich majestätischen Kaiserwald verläuft, blitzt gelegentlich die Sonne hervor.
Schon nach wenigen Minuten sind die Glieder steif, die Ohren rot und die Haare vom Winde verweht. Nur schnell runter vom Turm und hinein ins Warme, ins „Elefant“, wo schon der junge Goethe, Beethoven und Kaiser Franz I. auf angenehme Weise ihre Zeit verbrachten, oder ins Jugendstilcafehaus des Grandhotels Pupp. Dort fragst du dich beim Löffeln der gleichnamigen Torte unwillkürlich, was außer Eiern, Mandeln und dem in Karlsbad allgegenwärtigen, grünlich-gelben Kräuterlikör Becherovka in der köstlichen Kalorienbombe steckt.
Karlsbad: der ungewollte Kriegsverlierer
Eine steife Brise rüttelt auch sinnbildlich an den Grundfesten Karlsbads, das gemeinsam mit zehn weiteren traditionsreichen Kurstädten in Europa – darunter auch der Nachbar Marienbad – im Jahr 2021 in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen wurde.
Die Corona-Pandemie brachte zunächst das gesellschaftliche Leben zwischen Kurabteilung, Ballsaal und Theater zum Erliegen. Doch wegen des mörderischen Angriffs Russlands auf das „Brudervolk“ der Ukraine, der Sanktionen gegen Putins Gefolgschaft und der drastisch verschärften Einreisebestimmungen wurde das Heilbad ungewollt zum Kriegsverlierer.
Karlsbad war wie eine russische Enklave
erzählt Reiseleiterin Sarka Kostalova. Während Deutsche und Österreicher oft nur für ein paar Tage in die Perle des böhmischen Bäderdreiecks kämen, manchmal sogar nur für einen Tagesausflug, seien die konsumfreudigen Russen oft mehrere Wochen in Karlsbad geblieben. „Niemand weiß, ob sie nach Ende des Krieges wiederkommen“, so die Tschechin. Die Statistik belegt ihre Aussagen: 2019 gingen 315.000 Übernachtungen auf das Konto von Russen, 2022 waren es gerade einmal 10.000.
Karlsbad: Kulisse einer Galavorstellung
Wer an der Tepla entlangspaziert, vorbei an prächtigen Bauten im Stil des Historismus und des Jugendstils, die wie die Kulisse einer nie enden wollendenden Gala-Vorstellung wirken, sieht die Unterschiede zu früher sofort. Zwar ist die kyrillische Schrift noch immer auf Speisekarten, Werbetafeln und Geschäftsschildern präsent, doch russische Wortfetzen mischen sich nur noch selten in den Wohlklang aus Tschechisch, Deutsch, Spanisch oder Japanisch.
In der 132 Meter langen Mühlbrunnenkolonnade mit ihren 134 korinthischen Säulen und den zwölf allegorische Statuen, die die einzelnen Monate des Jahres symbolisieren, standen die russischen Kurgäste einst Schlange, um mineralienreiches Heilwasser aus den so typischen Schnabeltassen zu schlürfen.
In den Nobelboutiquen herrscht gähnende Leere
Heute versammeln sich japanische Besuchergruppen zum Gruppenfoto in der Sprudelkolonnade, einer architektonischen Grausamkeit aus Eisen und Stahl, wo eine bis zu 74 Grad heiße Quelle bis zu zwölf Meter in die Höhe schießt. In der Fußgängerzone Stara Louka drehen die Verkäufer der Nobelboutiquen und Juweliere Däumchen: Statt betuchter Russinnen mit Zobelpelz, Valentinotäschchen und mörderischen Highheels stapfen nämlich deutsche Senioren über das Kopftsteinpflaster, immer auf der Suche nach Oblaten, Gulasch und Pilsner Bier.
Die Zeiten üppigen Glamours sind selbst in den traditionsreichen, mit fünf Sternen dekorierten Nobelherbergen vorüber. Im hauseigenen Restaurant wird zwar der Dresscode “smart casual” propagiert, in den Fluren aber dominieren Jeans, Pullover und gelegentlich sogar Jogginghosen. Die Hotels und Herbergen – 173 an der Zahl – sind schließlich auf Auslastung angewiesen.
Viele Paläste stehen leer
Abends zeigt sich das Ausmaß der Misere. Restaurants, in denen einst der Champagner in Strömen floss, sind geschlossen, ganze Etagen der hochherrschaftlichen Herbergen bleiben dunkel. Selbst in den Flaggschiffen „Pupp“ sowie dem “Imperial“, das wie eine Tiara über der Stadt thront, sind noch Zimmer zu bekommen.
Karlsbad: in Stein gegossene Geschichte
Dabei glänzt die schöne Vergänglichkeit nirgendwo so bezaubernd wie im tschechischen Karlsbad. Die Stadt ist in Stein gegossene Geschichte; ein inszenierter Traum aus denkmalgeschützten Häusern mit stucküberladenen Foyers, in Gold schwelgenden Treppenhäusern und Heerscharen von muskelbepackten Atlanten, die das Übermaß an Ornamenten nur mühsam abstützen können. Die allgegenwärtige Opulenz verleitete den französischen Architekten Le Corbusier einmal dazu, das Stadtbild als eine „Ansammlung von Torten, alle vom gleichen Stil“ zu beschreiben.
Dass sich die westböhmische Stadt heute so prachtvoll wie vor 100 Jahren präsentiert, als Kaiser, Könige, Kanzler und Könige zur Kur in das enge, waldreiche Tal reisten, ist vor allem reichen Russen zu verdanken.
Russen investierten in Karlsbads architektonisches Erbe
Nach der Wende kauften sie Hotels, Pensionen und Privatvillen in großer Zahl, investierten viel Geld in die mustergültige Sanierung der heruntergewirtschafteten Anwesen und belebten so das Abbild der Vergangenheit. Schätzungen zufolge gehört jedes zweite Haus im Zentrum russischen Investoren.
Doch jetzt rächt sich dieser Umstand. „Viele Besitzer, die hier eine geraume Zeit des Jahres verbringen wollten, können jetzt nicht mehr kommen“, erzählt Stadtführerin Jutta Hebronova in dem schönen melodischen Deutsch, wie es ältere Tschechen noch häufig sprechen. Einige wollen jetzt ihren Besitz schnellstmöglich abstoßen, andere setzen auf das Prinzip Hoffnung und bessere Zeiten.
Einige der prächtigsten Bauten Karlsbads stehen leer, wie beispielsweise das Empire-Herrenhaus des Barons August von Lützow sowie die im Jahr 1900 erbaute Jugendstilvilla des Schneidermeisters Felix Zawojski.
Der gute Mann hatte mit seinem Salon mitten im historischen Zentrum ein Vermögen verdient, zählte erlauchte Herrschaften wie König Eduard VII. sowie den Schah von Persien zu seinen Kunden. Er leistete sich den ersten Aufzug in einem Karlsbader Bürgerhaus. Von 2006 bis 2008 wurde das mehrstöckige Anwesen mustergültig rekonstruiert. Es heimste etliche Preise für die Sanierung der floral-verspielten Fassade ein. Doch eine Nutzung des schönen Gebäudes ist nicht in Sicht.
Karlsbad: Ein Zar als Werbefigur
Das innige Verhältnis der Russen zu dem westböhmischen Heilbad – es geht auf Zar Peter den Großen zurück.
Dessen überlebensgroße Büste steht auf der Petershöhe westlich des Kurzentrums und erinnert an die beiden Besuche des Romanow an der Tepla. Dort schwor der Zwei-Meter-Mann – übergangsweise – dem Alkohol ab, verdingte sich als Maurer beim Bau des Hauses “Zum Pfau” und schlürfte brav das heilkräftige Wasser, das bei Erkrankungen des Verdauungssystems wahre Wunder bewirken soll.
Das Wasser wirkte außerordentlich vorteilhaft
schrieb der Zar an seine Gattin. Dem Herrscher, dessen Name Karlsbad ältestes Haus, ein hübscher Fachwerkbau, schmückt, folgten Generationen von Aristokraten, Geldadel und Literaten wie Tolstoj und Turgenjew. Letzterer ließ allerdings kein gutes Haar an dem Heilbad: „Es ist immer dasselbe hier. Langeweile, Langsamkeit, Gleichförmigkeit und zur Abwechslung ein mächtiger Schnupfen, den ich wer weiß wo und wie aufgelesen habe”, notierte der Schriftsteller im Juni 1873.
Andere gingen großmütiger mit dem Kurort um, wo sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts alles unter den Kolonnaden traf, was Rang und Namen hatte.
Wie es dampft und braust und sprühet aus der unbekannten Gruft, von geheimen Feuern glühet heilsam Wasser, Erd’ und Luft
dichtete der naturwissenschaftlich keinesfalls unbeschlagene Johann Wolfgang von Goethe angesichts des dramatischen Auftritts der Sprudelquelle. 13 Mal kam der Geheimrat zur Kur nach Karlsbad und wohnte dabei meist im Hotel “Drei Mohren”. Als ihn seine letzte große Liebe, die blutjunge Ulrika von Levetzow, verschmähte, verließ er im September 1823 enttäuscht die Stadt und kam niemals wieder.
Karlsbads Schatz kommt aus 2000 Metern Tiefe
18 Tonnen Mineralien sprudeln die Quellen tagtäglich aus 2000 Metern Tiefe an die Erdoberfläche. Entdeckt wurde die Heilwirkung der faulig müffelnden Wässerchen eher durch Zufall. Angeblich soll Karl IV., König von Böhmen und römisch-deutscher Kaiser, während einer Pirsch auf ein blubberndes Wasserloch gestoßen sein, wo er sein verletztes Bein kurierte.
Die Legende vom Jagdhund, der einem Hirschen nachstellte und dabei versehentlich in der heißen Quellen landete, liest sich zwar hübsch, dürfte aber ein Ammenmärchen sein. Die Karlsbader störte das wenig; stattdessen nannten sie eine Felsnadel kurzerhand Hirschsprung und errichteten dem Geweihträger ein Denkmal.
Allerdings ist das liebe Tierchen eine Gämse. Baron August von Lützow, der ständig mit den Stadtoberen im Clinch lag, war nämlich davon überzeugt, dass ein Hirsch niemals von einem solchen Felsen springen würde. Der Gams traute er es eher zu.
Karlsbader Kur: trinken und baden
Ein Zuckerschlecken war der Aufenthalt für die Kranken und Gebrechlichen, die Leidenden und Bettlägrigen nie. Viele Jahrzehnte lang verfuhr man in Karlsbad nach einem simplen Rezept: Viel hilft viel, ob beim Trinken oder Baden.
Bis zu sechzig Becher Sprudelwasser mussten es sein; wer in die Wanne in einer der fünf Kuranstalten stieg, musste dort zehn oder mehr Stunden ausharren, bis die Haut wund war und zu eitern begann – glaubte man doch, dass das heilende Wasser nur durch die „offene Haut“ richtig in den Körper eindringen und seine Heilwirkung entfalten könne.
Was Wunder, dass Künstler und Aristokraten, Politiker und Halbweltler vor der Reise nach Böhmen vorsorglich ihr Testament machten. Marschall Blücher schimpfte grimmig:
Ich war immer ein Todfeind des Wassers, und jetzt führt mich der Teufel hierher, wo ich Wasser ex offizio trinken muss.
Die fünf Kurhäuser mit ihren Badekabinen werden längst nicht mehr für den ursprünglichen Zweck gebraucht, “schließlich verfügt heute fast jedes Hotel über eine eigene Badeabteilung”, erzählt Jutta Hebronova.
Neue Nutzung für Karlsbads Kurhäuser
Für das 50.000-Einwohnerstädtchen ist diese Ansammlung architektonischer Schmuckstücke eine niemals endende Aufgabe, schließlich musste für jedes Traumgebilde eine sinnvolle Nutzung gefunden werden.
Im Elisabethbad mit seinem halbrunden Mittelbau ziehen Schwimmer ihre Bahnen, im Bad III mit seiner neugotischen Fassade tritt regelmäßig das Karlsbader Symphonieorchester im Antonín-Dvořak-Saal auf.
Majestätischer Badetempel: das Kaiserbad
Am heftigsten wurde um die Zukunft des Kaiserbades gerungen, gleich gegenüber dem pompösen Grandhotel Pupp. Die Väter des wahrlich majestätischen Badetempels mit seinem U-förmigen Grundriss, die umtriebigen Architekten Fellner und Helmer, errichteten ein Renaissance-Juwel mit Anleihen bei der Antike, das in punkto Ausschmückung und Ausstattung neue Maßstäbe setzte.
Das zahlungskräftige Klientel fand moderne Badekabinen mit eigenem Umkleideraum, hölzerne Wannen für Moor-und Mineralbäder sowie eine Turnhalle vor – “das erste Fitnessstudio Tschechiens mit mehr als 60 elektrisch betriebenen Turn- und Gymnastikgeräten”, so Kurator Jan Charvát.
Ob der Schah von Persien, der Begründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, oder die Astronauten-Legenden Juri Gagarin und Sigmund Jähn in der Muckibude trainiert haben, ist nicht bekannt. Gesichert ist, dass Äthiopiens Herrscher Haile Selassie der letzte Nutzer der kaiserlichen Badekabine war, die eigentlich für Kaiser Franz Josef I. konzipiert worden war.
56 Millionen Euro kostete die Sanierung
Kurhaus, Casino, zuletzt ein “Lost Place”, dessen morbider Charme Filmemacher inspirierte: Das Kaiserbad hat Höhen und Tiefen erlebt. Der letzte Besitzer des mondänen Baus, der eher einem Theater, denn einer Badeanstalt ähnelt, wollte das alte Gelump kurzerhand abreißen und stattdessen einen Supermarkt mit angeschlossenem Parkhaus errichten.
Glücklicherweise schoben Stadt und Staat diesen Plänen einen Riegel vor. Rund 56 Millionen Euro nahm das Bündnis für die Runderneuerung der denkmalgeschützten Preziose in die Hand, das nun eine Brücke von der Geschichte in die Gegenwart schlägt.
Die Hautattraktion ist noch immer das kaiserliche Badezimmer mit den handbemalten Fließen, der Mahagonivertäfelung und der Spültoilette, auf der etliche gekrönte Häupter Platz nahmen. Die Gegenwart repräsentiert ein neuer Multifunktionssaal, der auch als Kino genutzt wird. schließlich bringt das Internationale Filmfestival seit 1947 weltberühmte Hollywoodgrößen in das tschechische Heilbad.
Karlsbad: Wohltat für Seele und Körper
Ein Gutes hat die Abwesenheit der vielen russischen Gäste: Es ist herrlich entspannend, durch Karlsbads Gassen zu flanieren, die ein Freilichtmuseum der verlorenen Zeit sind. In den Restaurants, in denen die Eleganz und Gediegenheit des alten böhmischen Bades weiterlebt, gibt es fast immer einen Platz.
Vor den zwölf Quellen – der Volksmund bezeichnegt den Becherovka, den Magenlikör, als “Quelle Nr. 13” – frieren nur wenige Trinkwillige, auf deren Schnabeltassen Micky Maus, Marylin Monroe und das Karlsbader Zwiebelmuster prangen. Im bürgerlichen Viertel Westend, wo Karlsbads schönste Villen stehen und die goldenen Kuppel der russisch-orthodoxen Kirche in den Himmel ragen, herrscht Ruhe.
Am schönsten ist es, wenn man aus dem Tal der Tepla auf die Höhen spaziert, zu den kleinen Pavillons beim “Hirschsprung” oder zum Aussichtsturm Goetheblick, der auf der 638 Meter hohen Höhe des Ewigen Lebens thront. Wer die 160 Stufen zur Plattform erklimmt, fühlt sich dem Himmel näher, denn ein schöneres 360-Grad-Panorama gibt es nirgendwo in Karlsbad.
Noch ein paar Impressionen aus Karlsbad
[…] Daniel Craig seinen Einstand als Agent mit der Lizenz zum Töten gab, aber zu großen Teilen in Karlsbad, dem Heilbad am Flüsschen […]