Nur wenige Stunden dauert die Fahrt aus der Zivilisation in eine Welt außerhalb der Zeit, vom hektischen Stockholm zum wohl beschaulichsten Inselreich der Ostsee: Åland, dessen Bewohner ein bisschen finnisch, ganz viel schwedisch und noch mehr åländisch sind, ist ein veritabler Ostsee-Geheimtipp, ein Paradies für Aussteiger auf Zeit, eine herrliche Sommeridylle inmitten des Bottnischen Meerbusens.
Schon die Fährüberfahrt zur Hauptstadt Mariehamn, wo jeder Zweite der 29 000 Bewohner dieses Schärenparadieses lebt, dient der Entschleunigung. Im Schritttempo zieht die „Silja Symphony“ an schwedischer Bullerbü-Idylle vorbei, an silbrig glänzenden Kieferwäldern mit verwunschenen Holzhäuschen in ochsenblutrot, an glattgeschmirgelten Felsen, an feudalen Holzvillen mit Hortensien daneben und Bootshäusern auf Stelzen davor. Stockholms berühmter Schärengarten ist neben dem von Västervik mit das Schönste, was Schwedens Ostküste zu bieten hat.
Inhaltsverzeichnis
Noch Schweden oder schon Finnland?
In Mariehamn angekommen stellt sich die Frage: Sind wir jetzt noch in Schweden – was Sprache und Bauweise der Holzhäuser vermuten lassen. Oder sind wir bei den verrückten Finnen gelandet – was die Preisangabe in Euro nahelegt. Hier stimmt beides, denn das Schärenparadies auf halbem Weg zwischen Stockholm und Turku ist hin- und hergerissen zwischen Schweden und Finnland, vereinigt kurzerhand das beste beider Länder in sich.
Schäreninseln mit wechselvoller Geschichte
Völkerrechtlich gehören die Åland-Insel seit 1921 zu Finnland, obwohl sich die Insulaner lieber dem Königreich im Westen angeschlossen hätten. Dass im Schärenparadies, das fast zwei Jahrhunderte lang zum russischen Zarenreich gehörte, fast ausschließlich Schwedisch gesprochen wird, ist nur eine von vielen historisch begründeten Eigenarten. Der Sonderstatus sichert dem Ostsee-Archipel nicht nur weitgehende politische Autonomie zu; das Insel-Konglomerat ist zudem stolz auf eigene Briefmarken, eigene Autokennzeichen, eine eigene Internetdomäne (.ax) sowie eine eigene Flagge. Dem gelb umrandeten roten Kreuz auf blauem Grund werden wir auf unserer Rundfahrt noch öfter begegnen: an jedem Ortschild.
Vom Meer umschlungen
6 700 mehr oder weniger große Schären sollen zu diesem vom Meer geprägten, vom Meer umschlungenen Ostseereich gehören – Winzlinge wie das topfebene Märket, wo Besucher mit einem Fuß in Schweden, mit dem anderen in Finnland stehen, touristische Schwergewichte wie Eckerö, entlegene Außenposten wie Jurmo und Kökar, das genau genommen aus zwei (Insel-) Teilen besteht und dessen größte Sehenswürdigkeit die 1918 entdeckte Bronzezeitsiedlung von Ötterböte ist.
Die unterschiedlichsten Perlen wurden fürs Åland-Collier aufgereiht, glatt polierte Preziosen aus rotem Granit mit blauen Buchten, zerklüftete Kleinode mit steilen Klippen, bewaldete Schmuckstücke, wo sich der Mensch verliert. Manche Weiler sind so winzig, dass sie nur aus einer Handvoll Gehöfte bestehen. Gäbe es nicht die eingangs erwähnten Ortsschilder – der Name der Winzlingsorte bliebe uns für immer unbekannt. Kleine Kabelfähren mit Platz für eine Handvoll Autos kreuzen nach Bedarf über die oft nur wenige Hundert Meter breiten Wasserarme. Größere steuern Brändö, Kumlinge und vier weitere Inseln an. Der Fahrplan von Ålandstrafiken gilt nicht nur unter Einheimischen als unverzichtbare Bibel fürs Weiterkommen. Denn wer sein Schiff am Morgen verpasst, sitzt unweigerlich fest.
Åland: das reinste Erholungsheim
Vom fiebrigen Rest der Welt abgeschnitten: Vielleicht ist dies die Erklärung dafür, warum es auf den dünn besiedelten Schäreninseln so überaus geruhsam zugeht. Für stressgeplagte Mittel- und Nordeuropäer ist Åland das reinste Erholungsheim. Wer von Insel zu Insel hüpft, womöglich auf dem Sattel eines Fahrrades, wer von der Terrasse seines gemütlichen Holzhäuschens dem beruhigenden Spiel von Wind und Wellen zuschaut, der ist aus der Welt: unerreichbar für die Lieben daheim, die Nöte des Alltags, die Begehrlichkeiten des Chefs – wenn er denn nicht auf sein Handy starrt. Stattdessen gibt es Sonne satt, seltene Orchideen, die sich im Wind wiegen, aufgeheizte rot-braune Klippen, auf denen es sich nach einem erfrischenden Bad in der Ostsee wunderbar dösen lässt. Einziger Wermutstropfen: Wohin der Radfan auch steuert, der Wind weht immer aus der falschen Richtung. Nie von hinten, immer nur von vorn.
Zu Ålands Freiheitsstatue
Wer von Mariehamn per Boot in wenigen Minuten zur Mini-Schäre Kobba Klintar fährt, zur „letzten Insel vor dem offenen Meer“, versteht, warum die alte Lotsenstation für Generationen von Seefahrern eine Art åländische Freiheitsstatue war. „Wenn sie nach Jahren zur See nach Hause zurückkehrten und Kobba Klintar wiedersahen, kamen ihnen die Tränen“, erzählt Janne Häger, der Taxifahrer, Kapitän der „Silvana“ und Stadtführer in Personalunion ist.
Auch wenn die alte Station 1972 geschlossen wurde – der Zauber, das Geheimnis Kobba Klintars ist geblieben. Manche jetten nur hinüber, um sich rauen Wind um die Nase wehen zu lassen. Andere schätzen das kleine Café, dessen Betreiber anfangs nicht mal Strom und fließend Wasser hatte. Einige kommen auch wegen der Parade der Pötte – wenn sich die Hochhaus-Kolosse der Ostseefähren haarscharf an Granitfelsen und Gegenverkehr vorbeischieben. Das riesige Nebelhorn der Lotsenstation besitzt Kultstatus und funktioniert noch immer. Während der Hauptsaison reißt es dreimal den größten Schläfer aus seinen Tag-Träumen: So ohrenbetäubend laut ist das Relikt einer vergangenen Zeit.
Finnlands schönster Leuchtturm
Wenn der rüstige Janne Häger nicht mit seiner „Silvana“ hinüber zur Insel Hällö heizt, um ermatteten Radfahrern einen kilometerlangen Umweg zu ersparen, nimmt der Seebär Touristen nach Sälskär mit. Dort steht angeblich Finnlands schönster Leuchtturm. Der unverhohlene Stolz in der Stimme ist wahrscheinlich auch familiärem Pflichtgefühl geschuldet, war doch Jannes Großvater der letzte Leuchtturmwärter auf diesem verlorenen Außenposten, bevor das Seezeichen nach dem Zweiten Weltkrieg automatisiert wurde.
Rund eine Stunde dauert die Bootstour zum rauen und spröden Sälskär. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie Opa Häger und die Seinen auf dem winzigen Inselchen weitab jeglicher Zivilisation gehaust haben. Ruhelos peitscht eine steife Brise über die Granitblöcke, die glatt wie ein Kinderpopo sind. Der kalte Wind zerrt heftig an den gekrümmten Kiefern, fegt grob über überwucherte Hausfundamente hinweg, die von einstiger Besiedlung künden. „Im Winter muss das hier ein hartes Los gewesen sein“, erzählt Janne, während sich der Schlüssel im Schloss des schneeweißen Leuchtturmes dreht. Solche Worte aus dem Mund eines kälteerprobten Wikingers lassen mich sonnenverwöhntes Südlicht zusätzlich frösteln.
Gruß an die Seefahrer
Wie das Lotsenhaus auf Kobba Klintar war der 30 Meter hohe Riese auf Sälskär gleichzeitig letzter Gruß an die Seefahrer auf großer Fahrt und Empfangskomitee für Heimkehrer. Denn im Schärenparadies Åland ist alles irgendwie mit dem Meer verbunden. Seefahrt und Fischerei waren von jeher die wichtigsten Einnahmequellen. Schon in der Steinzeit kamen Jäger und Fischer aus dem Osten. Später folgten die Wikinger. Zu dieser Zeit waren die Inseln an der Schnittstelle zwischen Schweden und Finnland sogar relativ dicht besiedelt. Später brachte es Åland zu einigem Wohlstand – dank florierendem Reedereigewerbe.
Letzter Hafen für die “Pommern”
Es war eine glorreiche Epoche, als Robbenjäger ihre wertvolle Fracht heimbrachten und Schiffe wie die „Pommern“ mit ihren 3 240 Quadratmetern Segel bis Australien schipperten. Heute liegt sie sicher vertäut im Westhafen von Mariehamn, am Ende der einen Kilometer langen Prachtstraße Norra Esplanadgatan.
Die schmucke Viermastbark ist das reinste Schlaraffenland für Seebären oder solche, die zumindest ein wenig Seemannsgarn aufsaugen möchten. Denn der 106 Meter lange und 13 Meter breite Segler ist wie ein aufgeschlagenes Geschichtsbuch, das die verrücktesten Stories erzählt: vom unaufhaltsamen Aufstieg des Reeders Gustaf Erikson, den es schon mit zehn Jahren als Kajütenjunge auf die schwankenden Planken verschlug und der später als „König der Segelschiffe“ firmierte; von mitreisenden Passagieren, die sich per Vertrag verpflichten mussten, dass Angehörige für eventuell anfallende Beerdigungskosten aufkommen; vom weiblichen Stewart Wilhelmina, die noch mit 70 als Wachmann an Bord arbeitete und in ihrem langen Leben achtmal Kap Hoorn umrundete.
Laderäume und Kojen, Kapitänssalon und Kombüse, Takelage und Fallwinden – all das ist noch immer im Original erhalten und vermittelt einen Eindruck vom harten und entbehrungsreichen Leben in der christlichen Seefahrt, von Stürmen, Orkanen und Flauten, in denen das bange Warten auf die Weiterfahrt mit Reparaturen und dem Schrubben des Decks einherging.
Mariehamn – Hauptstadt des Schärenparadieses
Wo drei Holzhäuschen und zwei knallrot getünchte Bockwindmühlen bereits ein Dorf darstellen, wirkt ein 11 000-Seelen-Nest wie Marienhamn schon fast weltstädtisch. Verlaufen kann man sich nicht in Ålands „Hauptstadt“, die eingequetscht zwischen zwei Meeresarmen auf einer Landzunge liegt. West- und Osthafen sind durch die Lindenallee Esplanaden miteinander verbunden, wo sich reich gewordene Ålander prachtvolle Holzvillen bauen ließen. An der verkehrsberuhigten Torggatan finden sich hübsche Läden, nette Restaurants sowie schnuckelige Cafés. Auf dem Rathaushügel steht die Statue der Zarin Maria Aleksandrovna, die der Stadt 1861 ihren Namen gab.
Königliches Jagdquartier auf Åland
Uns zieht es hinaus, zum landschaftlichen Kontrastprogramm. Grüne Wiesen wechseln sich ab mit sorgsam bestellten Feldern. Blaue Seen wirken wie hingestreut. Kühe und Schafe grasen friedlich vor sich hin. Liebevoll gepflegte Holzhäuser erstrahlen in knalligem Rot – wenn sich die stolzen Besitzer nicht für eine andere Farbe aus der Bonbontüte entschieden haben. Wirkliche Sehenswürdigkeiten sind eher rar gesät, vielleicht noch Kastelholm Slott und die Ruine Bomarsund.
Wenn Mauern Geschichten erzählen könnten, dann wäre dies im Falle der gut erhaltenen Schlossruine ein ziemlich blutiger Mehrteiler mit der schwedischen Dynastie der Vasa als Hauptakteur. Gustav Vasa schätzte das feudale Gemäuer als königliches Jagdquartier. Sein Sohn Johann ließ kurzerhand den eigenen Halbbruder nebst Gattin in dem Bau mit den massiven Mauern inhaftieren. Heute dient er als Museum. Noch imposanter sind die Reste der Festung Bomarsund, die vom einstigen Glanz der russischen Herrschaft auf Åland zeugt. Ziegelsteine aus dem während des Krimkrieges zerstörten Festungswalls wurden unter anderem in der Uspenskij-Kathedrale und dem Alexandertheater in Helsinki wiederverwendet.
Skurrile Ideen im Ostsee-Inselreich
Liegt es nun an den langen, stockdunklen Winterabenden oder am bekannt schwarzen Humor der Finnen, die sich für keine Verrücktheit zu schade sind, dass im Ostsee-Inselreich skurrile Ideen nur so sprießen? Das imposante, im neoklassizistischen Stil erbaute Post-und Zollhaus auf Eckerö ist völlig überdimensioniert für die paar tausend Insulaner, war aber dem Imponiergehabe des russischen Zarenreiches geschuldet. Für die Idee, eine nackte Klippe ohne nennenswertes Erdreich in einen mediterranen Garten zu verwandeln, bedurfte es schon eines ausgemachten Exzentrikers.
Es war der schwedische Freiherr Göran Åkerhjelm, der sich Ende der 1950er Jahre in das karge Källskär verliebte und von einem antiken Arkadien mit Hermesstatue, Lusthäuschen und allem Pipapo träumte. Das mit dem Garten war natürlich eine rechte Schnapsidee, denn außer einem Haufen bizarrer Steinformationen, rosafarbenem Heidekraut und leuchtend roten Heidelbeerstauden hat das weltabgewandte Refugium nicht viel zu bieten. So musste zentnerweise Erde übers Meer herangeschafft werden. Allzu viel Freude hatte der Herr Graf, wie er von allen nur genannt wurde, an seinem Wunderland nicht: Er überwarf sich mit seiner Familie und schenkte sein Schären-Elysium kurzerhand der åländischen Verwaltung. Die größte, nicht-geologische Sehenswürdigkeit der Insel ist übrigens die Nachbildung der Merkur-Statue von Giovanni Bologna.
Schampus für die Ostsee-Schöne
Selbst prickelnden Champagner hat die Ostsee-Schöne zu bieten, und das ganz ohne Weinbau. Einmal mehr taucht hier der Name des geschäftstüchtigen Christian Ekström auf, ein blonder Tausendsassa, dem die Åländer schon die Brauerei „Stallhagen“ verdanken. Beim Tauchen stieß er im Sommer 2010 auf das bis dato unbekannte Wrack eines Zweimastschoners. Der Segler, der wahrscheinlich auf dem Weg nach St. Petersburg gesunken ist, hatte nicht nur kostbares Porzellan an Bord, sondern auch 200 Flaschen des edlen Gesöffes. In 50 Metern Tiefe hatte es sich bei tiefster Dunkelheit und kühlen Temperaturen bestens gehalten. 30 000 Euro war einem Käufer aus Asien eine Flasche Veuve-Clicquot wert, für eine Pulle Juglar zahlte er immerhin 24 000 Euro – was den Staatshaushalt freuen dürfte.
Pils mit åländischem Honig
Deutlich preiswerter sind die Erzeugnisse der Brauerei, die in einer ehemaligen russischen Truppenbaracke residiert und 13 verschiedene Sorten braut – von einem klassischen Lager über ein Pale Ale bis zu einem mit åländischem Honig gewürzten Pils. „Drick mindre, drick bättre“ (Trinke weniger, trinke besser) lautet das Motto der Brauerei, deren Bier nicht nur auf den Åland-Inseln ausgeschenkt wird, sondern auch auf dem Festland und selbst im fernen Japan.
Wären da nur nicht die kruden Alkoholgesetze Finnlands! Weil Stallhagen seine Erzeugnisse selbst verkaufen wollte, zumindest die weniger alkoholgeschwängerten Sorten, musste ein eigener Laden nebst altertümlicher Kasse her. Allzu viel Auswahl darf der Besucher in diesem Mini-Supermarkt allerdings nicht erwarten. Der gesetzlichen Vorschrift war mit einigen Packungen Spaghetti genüge getan.
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