Es ist, als habe sich Stockholm für einen Reklamespot sein prächtigstes Kleid übergestreift. Die paar Schönwetterwolken, die wie Wattebäusche den strahlend blauen Himmel sprenkeln, spiegeln sich fotogen im Riddarfjärden, dem östlichsten Ausläufer des Mälaren-Sees.
Nahtlos geht der in die Ostsee über, die sich heute von ihrer gutmütigen Seite zeigt. Vom Ufer grüßen noble Villen, PS-starke Jachten und bestens gelaunte Großstädter herüber, während sich die MS „Juno“ zum Ziel ihrer Reise vorarbeitet; auf dem Götakanal, dem blauen Band Schwedens, wie es vollmundig in der Werbung hieß.
Inhaltsverzeichnis
Abschied vom Götakanal
An Bord herrscht beste Stimmung. John, der hemdsärmelige Unternehmer aus Minnesota, der zu Beginn der Reise nahezu jeden Passagier mit einem Händedruck à la Schwarzenegger begrüßt hat, zündet sich zur Feier des Tages eine Havanna an.
Das dänische Ehepaar, das sich mit seinen schwedischen Tischnachbarn tagelang Wortgefechte zur gemeinsamen Geschichte der beiden Länder geliefert hat, nippt vorsichtig am Sektglas, und der Hobbyfotograf aus Deutschland klickt zum gefühlten 1000. Mal auf den Auslöser. Nur der Kapitän der weißen Lady hat die Ruhe weg.
Das Wasser in Stockholm ist so sauber, dass es etliche Strandbäder für Wasserratten gibt, und das mitten in der Großstadt
schwärmt der grauhaarige Seebär, während im Hintergrund schon das Stockholmer Rathaus, das Stadhus zu erkennen ist. Für die gut 50 Passagiere heißt es Abschied nehmen, vom Kapitän, der Küchencrew und nicht zuletzt von der „Juno“, die auf dem Götakanal einmal mehr die Reise zwischen Göteborg und Stockholm gemeistert hat.
Von Göteborg durch das Herz Schwedens
Vor ein paar Tagen, bei der offiziellen Begrüßung am Kai in Göteborg, bestimmte Vorfreude die Gemütslage der Reisegesellschaft. Die gleicht einem bunt zusammengewürfelten Völkchen.
Mit dabei sind ein wohlsituiertes Lehrer-Ehepaar aus Norwegen, das ein ums andere Mal über die zivilisierten Preise im Nachbarland schwärmt, und zwei ziemlich betagte Schwestern aus der Schweiz, die sich während der viertägigen Reise als Dauer-Nörgler outen werden. Der Hamburger und seine „Deern“ haben jahrelang gespart, um sich den Nostalgietrip zur Goldenen Hochzeit leisten zu können. Die lärmende Gruppe aus „Gods own Country“ will „Europe in ten days“ hinter sich bringen.
Wir alle haben schwedische Vorfahren
erklärt John, während er ein Büchlein mit verblichenen Schwarz-Weiß-Fotografien aus der Tasche kramt. „Das waren meine Großeltern, die Ende des 19. Jahrhunderts in die USA auswanderten, weil sie hier keine Zukunft sahen“, erzählt der „Spurensucher“. Fast scheint es, als würde die Begegnung mit der Heimat der Vorfahren höchst sentimentale Gefühle in diesem Bär von Mann wecken.
Unterwegs mit schwimmenden Oldtimern
Mir stellt sich angesichts dieses Zwei-Meter-Kolosses mit geschätzten 120 Kilo Lebendgewicht eher die Frage, wo er seinen Luxuskörper nächstens betten will.
Denn die „MS Juno“ wartet mit ganz viel poliertem Mahagoni und blank geputztem Messing auf und nennt sich stolz ältestes Passagierschiff der Welt. Doch der denkmalgeschützte schwimmende Oltimer stammt ebenso wie seine jüngeren Geschwister „Wilhelm Tham“ und „Diana“ aus einer Zeit, als Damen und Herren noch zierlich waren.
Auch ich fluche innerlich, dass ich nicht rechtzeitig Längen- und Breitenwachstum eingestellt habe. Dabei bin ich keines jener versnobten Luxusweibchen, die sich allenfalls mit fußballfeldgroßen Suiten nebst privatem Spa und Personal Trainer zufriedengeben; doch der Blick in die winzig kleine Kabine auf dem 1874 erbauten Kanalschiff weckt dann doch Erinnerungen an lange zurückliegende Klassenfahrten im Liegewagenabteil.
Schon Ibsen befuhr den Götakanal
Höflich gesprochen ist mein Refugium für die kommenden Tage ziemlich überschaubar: ein gut zehn Zentimeter tiefer „Schrank“, wo die Schätze meines Reisekoffers nie und nimmer Platz finden, ein winzig kleiner Tisch, in dem sich die Waschschüssel verbirgt, und zwei höllisch schmale Stockbetten, in denen wohl nur etwas zu kurz geratene Elfen mit der Figur von Keira Knightley bequem nächtigen.
Immerhin reist man auf der großen alten Dame in illustrer Runde, wandelt auf historischen Spuren. Schon Henrik Ibsen und der Märchendichter Hans Christian Andersen sollen nämlich in diesen nur 185 Zentimeter langen Betten süße Träume gehabt haben.
Mit neun Knoten durch Schweden
Doch wegen Luxus wie auf einem Kreuzfahrtschiff kommt ohnehin kein Passagier auf das Kanalschiff mit dem Charme der Jahrhundertwende. Für Honeymooner hält es immerhin eine Hochzeitssuite mit einem 120 Zentimeter breiten „Queen-size“-Bett bereit.
Wer sich auf den Schiffen der Götakanal-Flotte einnistet, die mit gemütlichen neun Knoten quer durch Schweden schippern, lernt das Herz des nordischen Königreiches aus einer anderen Perspektive kennen. Am Bullauge der Kabine gleiten Bilder wie aus Astrid Lindgrens Bullerbü vorbei, die genauso der Zeit entrückt zu sein scheinen wie der Nestor der drei Kanalschiffe.
Bilder aus Büllerbü
Zur Linken toben Pferde samt Fohlen über üppig grüne Weiden, zur Rechten grasen glückliche Kühe. Verzauberte Pippi-Langstrumpf Puppenstuben im typischen ochsenblutrot und dem unverzichtbaren Fahnenmast im Vorgarten konkurrieren mit jenen in leuchtendem Sonnenblumengelb; gertenschlanke Birken wetteifern mit bauchigen Kastanien.
Auf wogende Kornfelder folgen stille Waldsümpfe, wo Elche hausen; an die Stelle heimeliger Orte, die nur im kurzen Sommer zu Leben erwachen, treten trutzige Festungen, deren Mauern Ströme von Blut gesehen haben. Wohin man blickt nur blau-gelbe Schwedenidylle. Vom Sonnendeck schweift der Blick über Vänern und Vättern, die mehr Meer als See sind, über glatt geschliffene Schären-Eilande in der Ostsee, über schmucke Schlösser, gefällige Herrensitze und betagte Kanalwärterhäuschen. Zeit bekommt einen anderen Stellenwert während dieser bedächtigen Endlosschleife aus Landschaft, Kultur und Geschichte.
Der Götakanal: Wasserweg quer durch Schweden
Dass es überhaupt diesen Wasserweg zwischen Göteborg und Stockholm gibt, auf dem sich gestresste Zeitgenossen einem regelrechten Entschleunigungstrip für Körper und Geist unterziehen können, verdanken die Schweden einem weitsichtigen Sturkopf von der Insel Rügen namens Baltzar von Platen.
Der Sohn des schwedischen Generalgouverneurs in Pommern, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch zum schwedischen Reich gehörte, griff einen Jahrhunderte alten Gedanken auf, mit dem schon Gustav Wasa geliebäugelt hatte: einen Kanal quer durch Schweden als Verbindung von Nord- und Ostsee.
Die Schleusen des Trollhätte-Kanals
Die Schweden waren es einfach leid, dass ihre Frachter im Öresund von den Dänen abkassiert wurden. Der westliche Teil der Wasserstraße, der 82 Kilometer lange Trollhätte-Kanal mit seinen sechs Schleusen, war schon im Jahr 1800 fertig. Doch das genügte den Erbauern nicht, die sich schon an den Stromschnellen von Trollhättan die Zähne ausgebissen hatten, wo der Fluss Göta Älv mit 300 000 Litern Wasser pro Sekunde 32 Meter in die Tiefe stürzt.
Kosten: Neun Millionen schwedische Reichstaler
Zehn Jahre später bekam von Platen grünes Licht für den östlichen Strang – ein für damalige Verhältnisse gigantisches Bauvorhaben, das alles in allem neun Millionen schwedische Reichstaler verschlang.
Seine Idee: Die einzelnen Seen durch Kanalabschnitte miteinander zu verbinden, und so eine durchgehende Wasserstraße zwischen den beiden wichtigsten Städten des Landes zu schaffen. 60 000 Mann – darunter eine Kompanie russischer Fahnenflüchtiger – schufteten 22 Jahre lang an dem Kanal, hoben ihn eigenhändig mit Spaten und Schaufel aus.
Die Arbeit war knochenhart, aber heiß begehrt, war sie doch mit 13 Reichstalern pro Tag gut bezahlt. Dumm nur, dass das nationale Prestigeobjekt vom technischen Fortschritt überholt wurde: Kaum war der Kanal 1832 eröffnet, setzte sich die Eisenbahn an die Spitze der Transportmittel.
Die Fertigstellung seines Lebenswerks erlebte der ehemalige Marineoffizier von Platen nicht mehr. Er starb 1830 und wurde in Motala mit allerhöchsten Ehren bestattet, „an den Ufern, die er selbst erschuf“.
Die Schleusentreppe von Berg
Lastkähne sind auf dem technischen Wunderwerk längst nicht mehr zu sichten. Die vielen Schleusen entlang der Strecke – allein 58 sind es zwischen Vänern und der Ostsee – sind schlichtweg zu klein für große Kähne.
Stattdessen muss sich das Oldtimer-Trio aus der glorreichen Epoche der Dampfschiffe den Kanal, dieses technische Wunderwerk mit seinen Schleusen, den Klapp- und Drehbrücken, höchstens mit ein paar Ausflugsbooten und Hunderten von Privatjachten teilen. Das spektakulärste Bauwerk ist sicherlich die Schleusentreppe bei Berg, wo der Kanal dem Roxen-See zusteuert und knapp 19 Höhenmeter überwinden muss.
Sieben Kammern folgen unmittelbar aufeinander, gut eine Stunde braucht die „Juno“, um den Höhenunterschied zu überwinden. Während der Kapitän mit traumwandlerischer Sicherheit seinen Augenstern millimetergenau in die Schleusenkammer bugsiert, die kaum breiter als das Schiff ist, bleibt den Passagieren Zeit für Entdeckungen.
Einige spazieren zum nahen Zisterzienserkloster, von dem nur noch die verwunschen wirkenden Grundmauern und die Klosterkirche nebst mittelalterlichem Hagioskop – einer Mauerspalte, durch die Leprakranke der Messe beiwohnen konnten – erhalten blieben. Andere stürzen sich wie die Einheimischen in den wohltemperierten See oder nehmen in einem der hübschen Lokale eine Auszeit, um Radfahrer und Wanderer zu beobachten, die auf den alten Treidelpfaden am Ufer unterwegs sind.
Vom See in die nächste Schleuse
Schleusentore öffnen und schließen, Schiff vertäuen, Kammern fluten, Tore wieder öffnen, Leinen lösen: Spätestens bei der zehnten Prozedur fühlt sich jeder Gast als gestandener Seebär.
Dabei hat der Wechsel zwischen beschaulicher Fahrt auf dem Göta Alv, lauschigen Passagen auf dem Kanal und gemütlichen Stunden auf offener See durchaus seine Tücken. In trockenen Sommern, wenn die Wasserstände niedrig sind, ist der lehmige Untergrund Gold wert. 1976 mussten die Passagiere an einigen besonders flachen Passagen sogar von Bord, damit der alte Dampfer wieder frei kam.
In den Schleusen ist Millimeterarbeit gefragt
Manchmal kommt die knapp sieben Meter breite und 31 Meter lange „Juno“ dem Schleusentor so gefährlich nahe, dass ängstliche Naturen befürchten, das schwimmende Hotel könne nicht rechtzeitig bremsen und übers Ziel hinausschießen. Was sich im Juni 1931 an der Schleuse von Söderköping auch tatsächlich zugetragen hat: Maschinist und Kapitän waren sich wohl nicht ganz einig: Statt „volle Fahrt zurück“ ging es „volle Fahrt voraus“.
Die alte Lady durchbrach das Schleusentor und plumpste ins tiefer gelegene Becken. Gelegentliche Rumser und die dicken Holzfender zeugen allerdings davon, dass Schleusen nach wie vor Präzisionsarbeit ist. Die dicken Stämme schützen zwar den weißgestrichenen Schiffsrumpf, werden jedoch so ausgiebig gequetscht, zerrieben und zermahlen, dass die Crew gleich ein Dutzend Ersatzfender an Bord hat. Der erste gibt schon am Tag eins der Fahrt seinen Geist auf, in Stockholm ist das knappe Dutzend voll.
Die kuriosen Bauwerke am Götakanal
Wie viele Fender wohl in einer Saison zerschlissen werden? Wen interessiert’s, angesichts der Kuriosa entlang der Strecke. Dass Barrieren wie Brücken und Straßen wie von Geisterhand gesteuert zum Salut hochklappen, gehorsam die Fahrbahn einziehen oder sich folgsam zur Seite neigen, löst bei den Passagieren ein ums andere Mal ungläubiges Staunen ab. Mal gleitet eine Brücke nebst Schnellstraße an zwei Pfeilern nach oben, mal muss die Schienenstrecke Stockholm-Malmö weichen.
Bei Borensberg unweit des Roxen scheint die betagte Lady gleichsam zu schweben. Die ungewöhnliche Erscheinung ist nicht etwa dem ausgiebigen Genuss von Aquavit geschuldet, sondern dem Aquädukt von Ljungsbro, das 1970 gebaut wurde.
Allzu viel Grund, stolz zu sein, hatte die staatliche Straßenbaubehörde jedoch nicht. Schon in der ersten Saison war die Betonwanne undicht: Taucher mussten mehrmals täglich die Leckage abdichten. Die tradierte Bauweise des 19. Jahrhunderts – gestampfter Lehm, Muttererde und eine Schicht Kies – brachten schließlich Abhilfe.
Abstecher zur Wikingersiedlung Birka
Viel zu schnell vergehen die Tage an Bord, in diesem maritimen Orientexpress ohne Fernsehen, Swimming-Pool und Spielsalon. Bewegte Bilder liefern die Ausflüge – zur Festung Karlsborg, wo im Kriegsfall Königshaus, Regierung und Reichstag sowie die Goldreserven des Landes eine Bleibe finden sollten, nach Söderköping, wo es angeblich das beste Eis Schwedens gibt, und zur einstigen Wikingersiedlung Birka. Dort praktizieren seltsam gewandete junge Schweden experimentelle Archäologie.
Zurück an Bord hat die Küchencrew mal wieder Außergewöhnliches geleistet – in einer Kombüse, die kaum größer als die eingangs erwähnte Kajüte ist. Mit Heringsteller, Saibling aus dem Mälaren, Lachsfilet in säuerlicher Soße von Schalentieren und rosa gebratenem Elchfilet nebst einer Nachtisch-Kompositionen, deren Kaloriengehalt wohl auch nicht durch zweistündiges Joggen zu kompensieren ist, klingt der Tag aus.
Ich könnte aufs Oberdeck gehen, mich in einen der kuscheligen Korbsessel fallen lassen, dem Spiel der Wellen zusehen und dem Gesang der Vögel sowie dem Abendkonzert der Frösche lauschen. Die richtige Lektüre für diese mystische Stunde hätte ich sogar dabei – den Klassiker „Die Tote im Göta Kanal“ aus dem Jahr 1965. Doch nach Mord und Totschlag, nach einem frustrierten Kriminalkommissar steht mir jetzt nicht der Sinn. Da lasse ich mich doch lieber vom sonoren Stampfen des Schiffsdiesels in den Schlaf singen -in meinem viel zu kurzen Bett.
Wenn ihr mehr über Schweden erfahren wollt: In meinem ersten Beitrag über meine “Schwedenliebe” ging es zu einem der schönsten Schärengärten des Landes – nach Västervik. Und wer Schwedens dänische Seite erleben möchte, muss nach Schonen mit seiner Hauptstadt Malmö. Was es dort zu erleben gibt? Hier geht es zu meiner Geschichte.
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