Schlagartig bin ich hellwach. Die dunklen Wolken, die sich am Vorabend über der Seine auftürmten, sind über Nacht verschwunden. Wie ein goldgelber Feuerball schiebt sich am Horizont die Sonne hervor, taucht das stille Land in ein komplettes Farbenspektrum. Nebelschleier wabern wie Feengewänder über Wiesen und Wälder, dazwischen tauchen winzige Puppenstuben-Städtchen auf.
Inhaltsverzeichnis
Eine Fluss-Kreuzfahrt auf der Seine im Dezember
Wenn ich jemals Zweifel hatte, ob die Wochen vor Weihnachten die richtige Jahreszeit für eine Flusskreuzfahrt auf der Seine von Paris nach Rouen sind: Dieser fast schon kitschig schöne Morgen mit roten, blauen und violetten Streifen am Firmament zerstreut alle Bedenken. Dick vermummt stehe ich an Deck, wärme meine frierenden Hände an einer heißen Tasse Kaffee und genieße den Blick auf normannische Dreifaltigkeit: auf schwarz-weiß gescheckte Rindviecher, auf kleine Schlösser mit Seine-Zugang und himmelwärts strebend Kirchtürme, die viel zu groß für die winzigen Dörfer sind. Was es zwischen Paris und Rouen zu sehen gibt: Hier kannst du es lesen.
Auftakt in Paris
Verwöhnt von einer Fahrt auf der Donau, mit der wie ein Christbaum leuchtenden ungarischen Metropole Budapest, hatten wir gehofft, direkt in Paris abzulegen. Am Quai der Seine mit Blick auf die noch immer prächtige Kathedrale Notre-Dame oder zumindest auf den gewaltigen Louvre-Palast.
Doch daraus wird nichts, denn die niederen Seine-Brücken tolerieren höchstens die flachen Ausflugsschiffe, nicht aber die vier Decks der A-Rosa Viva. Die Seine ist eben kein Rhein und keine Donau, was sich im Lauf der fünftägigen Reise noch auszahlen wird.
Mit U-Bahn und Bus durch Frankreichs Hauptstadt
Wir machen das Beste aus diesem Umstand, geben unseren Koffer für einige Stunden an der Aufbewahrung im Gare du Nord ab (7,50 Euro), kaufen ein Tages-Ticket für die Pariser U-Bahn und die Busse (nochmals 7,50 Euro) und machen die Millionenmetropole unsicher. Der Himmel ist grau, die Temperaturen alles andere als Glühwein-tauglich. Aber dafür erstickt die französische Hauptstadt zur Abwechslung mal nicht an Touristen.
Abstecher zur Baustelle von Notre-Dame
Vor dem berühmten Hauptportal von Notre-Dame, das von dem verheerenden Feuer verschont blieb, schießen asiatischen Touristen ihre unverzichtbaren Selfies. Doch es geht erstaunlich entspannt zu, ohne Rempelei und Geschubse. Wir schlendern an der Seine entlang, bewundern die Prachtbauten von Louvre bis Justizpalast, streifen durch die schmalen Gassen vom Quartier Latin und genehmigen uns eine Galette, die herzhafte Variante eines Crêpe mit reichlich Käse und Champignons. Den knusprigen Happen gibt es sogar ohne Touristenaufschlag.
Lange Schlangen vor dem Eiffelturm
Der Abstecher zum Eiffelturm ist Pflicht, auch wenn es nur beim sehnsüchtigen Blick nach oben bleibt. Meine stille Hoffnung, dass an einem solch grauen Wintertag die Warteschlangen kurz sind, hat sich schon beim Gang zum Kassenhäuschen zerschlagen.
Monströse Ströme pilgern zu dem 324 Meter hohen Eisenfachwerkturm am Ende des Marsfeldes. Eigentlich sollte er 20 Jahre nach seiner Fertigstellung wieder abgerissen werden: Schließlich war der Turm, seinerzeit als „teuflische Konstruktion“ verschrien, kein Denkmal, sondern ein moderner Bau ohne Funktion, eigens für die Weltausstellung 1889 errichtet.
Glücklicherweise legten die Pariser die Abrisspläne ad acta, auch wenn Künstler wie Guy de Maupassant unbarmherzig über die 7300 Tonnen schwere Stahlkonstruktion wetterten:
“Ich habe Paris und sogar Frankreich verlassen, weil der Eiffelturm mich schließlich zu sehr ärgerte. Nicht genug, dass man ihn von überall sieht, nein er ist überall und in jedem Material erhältlich, in jedem Schaufenster ausgestellt, ein unentrinnbares, quälendes Albdrücken”
Zu sehen ist er wirklich, das Pariser Wahrzeichen, das jährlich von rund sechs Millionen Menschen besucht wird. Der Koloss überragt das Dächermeer der französischen Hauptstadt; seine kleinen Brüder „Made in Taiwan“ stehen in Souvenirgeschäften, schmücken Schürzen und Kochlappen und inspirieren das Heer der Straßenpflastermaler. Das Original – im Jahr seiner Fertigstellung das höchste Gebäude der Welt – wirkt trotz seiner Höhe leicht und filigran.
Keine Lust auf Warterei vor dem Giganten
Unseren Aufstieg auf die erste, zweite oder dritte Plattform in luftigen 276 Metern müssen wir bis zu unserem nächsten Besuch in der Stadt der Liebe aufschieben. Bei rechtzeitiger Buchung auf der offiziellen Internetseite lässt sich die lästige Warterei am Fuß des Giganten verkürzen, der als „erstaunliches Meisterwerk ziviler Ingenieurskunst“ gilt. Bei gutem Wetter soll man 70 Kilometer weit blicken können. Wenn das kein Grund ist wiederzukommen.
Leinen los für die Fahrt auf der Seine
Am Nachmittag machen wir uns auf nach St-Germain-en-Laye, einem der nobleren Vororte von Paris, wo die A-Rosa Viva vor Anker liegt. Wir haben keine Zeit für das Château Neuf, wo schon Ludwig XIV Hof hielt, bevor er ins nahe Versailles umzog. Keinen Blick für die eleganten Villen, die zeigen, dass der Ort ein teures Pflaster ist. Der Moloch Paris: Er hat Orte wie St- Germain oder Argenteuil längst geschluckt.
Am Abend stehen wir auf dem Oberdeck, während das Schiff sich langsam in Bewegung setzt. Wie in Zeitlupe ziehen die Häuser vorüber, die Sportplätze, die Brücken, die so niedrig sind, dass ich unwillkürlich den Kopf einziehe. Möwen segeln um das Heck des Schiffes, in der Hoffnung einen guten Happen zu ergattern. Die Lichter der Zivilisation spiegeln sich als leuchtende Bänder im nachtschwarzen Wasser. Doch schon nach wenigen Kilometern umhüllt uns tiefste Dunkelheit. Nur die Sterne leuchten hell vom wolkenlosen Himmel.
Die Seine – ein ungebändigter Fluss
Die nautische Karte, die nonstop während der Flusskreuzfahrt auf der Seine zu sehen ist, beweist, was man längst ahnt. Die Seine, mit 777 Kilometern Frankreichs drittlängster Fluss, hat sich erfolgreich der Epoche der Begradigungen widersetzt.
Ungebändigt mäandert sie in zahlreichen Schleifen Richtung Ärmelkanal. Sie knabbert sich durch weichen Kalkstein – was eine faszinierende Felsenlandschaft schuf – und ergießt sich in eine Handvoll Schleusen. Mit dem Auto wären es von Paris nach Rouen, der geschichtsträchtigen Hauptstadt der Normandie nur 140 Kilometer. Das Schiff legt rund 200 Kilometer zurück und braucht dafür gemütliche 14 Stunden.
Zwischen Île-de-France und Normandie
Die „Grenze“ zwischen der Île-de-France und der Normandie haben wir buchstäblich verschlafen; in unserer Kajüte mit den beiden Bullaugen, an deren Unterkante sich der Fluss friedlich kräuselt. Nur wenn einer der langen Lastkähne vorbeizieht, die Steine, Getreide oder Öl geladen haben, schwappt die Seine mit ordentlich Schmackes gegen die Bordwand. Mich hüllt das sanfte Plätschern und Gurgeln angenehm ein.
Über Nacht hat sich unser Flussschiff ein weihnachtliches Gewand übergestreift. Im Foyer steht ein mannshoher Christbaum mit roten Schleifen; in der Lounge warten die Kerzen der Adventskränze darauf, angezündet zu werden. Der Weihnachtsmarkt in Rouen mit seinen weißen Buden vor der imposanten Kathedrale soll ebenfalls bereits geöffnet haben. Kann es eine schönere Kulisse geben?
In Rouen – der Hauptstadt der Normandie
Das Gotteshaus gilt als womöglich schönste gotische Kirche Frankreichs und hielt bis 1880 einen Weltrekord: als höchstes Gebäude der Welt. Dann wurde der 151, 5 Meter hohe Turm durch seinen Konkurrenten in Köln abgelöst.
Von der Anlegestelle sind es nur ein paar Minuten zu Fuß bis in die historische Altstadt mit ihren verwinkelten, schmalen Gassen und dem Jahrhunderte alten Kopfsteinpflaster. Als
“Stadt der hundert Kirchtürme, deren Glockengeläut himmelauf schwingt”
hat der französische Schriftsteller Victor Hugo die Hauptstadt der Normandie bezeichnet, wobei er wohl vor allem die sieben Türme der Kathedrale Notre-Dame im Auge hatte. Wie Flammen züngelt das Maßwerk im Stil des späten Flamboyant an der Fassade hoch, was sie wunderbar leicht und luftig wirken lässt.
Auf dem Place du Viex-Marché
Obwohl es ziemlich regnerisch ist und die Temperaturen im einstelligen Bereich liegen, sind die Stühle vor Cafés und Restaurants auf dem Place du Vieux-Marché gut besetzt. Fotogen gruppieren sich prächtige Bürgerhäuser mit typisch normannischem Fachwerkstil um den alten Marktplatz, darunter das “La Couronne” aus dem Jahr 1345. Es ist das angeblich älteste Gasthaus Frankreichs und eine legendäre Adresse: Hier haben schon die Queen, Frankreichs Staatspräsidenten und der normannische Kleiderschrank Curd Jürgens getafelt.
Hommage für Frankreichs Nationalheilige
Mittendrin in dieser farbigen Fachwerk-Seligkeit: eine höchst gewöhnungsbedürftige Kirche mit einer ungewöhnlichen Geschichte. Mitten in Rouen wurde Frankreichs Nationalheilige Jeanne d’ Arc gefoltert und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Eine steinerne Säule erinnert an das grausige Ende der 19-Jährigen.
1979 wurde die Église Sainte-Jeanne-d’Arc errichtet, ein Bau, der nicht jedermann gefällt. Das auffällige Bauwerk aus grauem Sichtbeton soll an ein Wikingerboot erinnern. Das kriegerische Volk aus dem hohen Norden war auf Beutezügen ein ums andere Mal die Seine hochgesegelt, bis ihr Anführer, der wilde Rollo, im Jahr 911 vom französischen König die Herrschaft über diesen Landstrich übertragen bekam. Das macht die Normandie zur einzigen französischen Region, die ihren Geburtstag genau datieren kann.
So irritierend das Äußere des modernen Kirchenbaus ist, so gefällig präsentiert sich das Innere. Der schlichte Kirchenraum wirkt fast wie ein Amphitheater, verzichtet ganz auf Pomp. Der einzige Schmuck ist eine wunderbare Bronzestatue der Jeanne d’Arc und natürlich die raumhohen Fenster, die den ganzen Raum in ein überirdisches Licht tauchen.
Einst waren sie der ganze Stolz der Pfarrgemeinde von Saint-Vincent. Doch während des Zweiten Weltkrieges wurde das Gotteshaus in Schutt und Asche gelegt. Die wertvollen Fenster hatten Menschen mit Weitsicht ausgelagert. Weil die alten Fenster nicht passgenau zum neuen Bau passten, werden sie durch eine moderne Glaseinfassung eingerahmt.
Rouen für Genießer: die Rue du Gros Horloge
Am alten Markt beginnt die schönste Gasse der Seine-Stadt, die Rue du Gros Horloge. Kleine Geschäfte residieren in den Erdgeschossen. Chocolatiers verkaufen christbaumkugelgroße Schätze aus Schokolade. Pâtissiers bieten fluffige Macarons in allen Farben feil – für zwei Euro das Stück. Alles wird so liebevoll präsentiert, ist so liebevoll in glänzenden Folien verpackt, dass es fast schändlich erscheint, diese Kostbarkeiten so nebenbei zu vernaschen.
Über die nur ein paar Meter breite Gasse, die bestens in einen Historienschinken passen würde, spannt sich ein Renaissancebogen mit der astronomischen Uhr. Die Gros-Horloge gilt neben der Kathedrale als die bedeutendste Sehenswürdigkeit Rouens. Seit 500 Jahren zeigt die mit mächtig Gold protzende Uhr in der Altstadt die Zeit an, wobei man diesen Begriff nicht zu eng fassen sollte.
Eine Uhr mit nur einem Zeiger
Auf dem zweieinhalb Meter großen Ziffernblatt mit den 24 goldenen Sonnenstrahlen gibt es nämlich nur einen einzigen Zeiger für die Stunden, neben einem Mondkalender. Letzterer war im Mittelalter wichtiger als ein Minutenzeiger, denn nur so wussten die Menschen, wann die nächste Flut kommt und damit Schiffe voller Ladung. Wie sehr sich Ebbe und Flut in Rouen auswirken, erlebe ich persönlich. Die Gangway endet mal auf Deck drei. Stunden später geht es über Deck zwei an Bord. Der Tidenhub beträgt zwischen vier und sechs Metern.
Für das kleine Museum im Glockenturm fehlt uns während der Seine-Kreuzfahrt leider die Zeit. Dort kommt man dem Mechanismus der Uhr, der Uhrmacherwerkstatt und den Glocken ganz nahe. Das noch immer intakte Uhrwerk aus dem Jahre 1389 funktionierte bis 1928 ununterbrochen und gilt als eines der ältesten in Frankreich. Und die Aussicht vom Turm über die Dächer Rouens und die Kathedrale Notre-Dame soll herrlich sein.
Monet: ein Bewunderer der Kathedrale
Schon Claude Monet war dem Anblick des gotischen Gotteshauses verfallen, wo Richard Löwenherz und der Begründer der Normandie, Herzog Rollo, begraben liegen. Mehr als 30 mal malte der Impressionist dieses Meisterwerk, immer frontal – weil sein Atelier im ersten Stock eines Renaissancehauses gegenüber lag. Es muss eine ziemlich seltsame Konstellation gewesen sein: Monets Werkstatt, wo der Meister an mehreren Staffeleien gleichzeitig arbeitete, war nämlich in einer Ecke eines Strumpf- und Trikotagengeschäfts untergebracht. Weshalb sich der Künstler öfters von der Damenwelt gestört fühlte.
Monets Bilderserie zeigt die Kathedrale in blau, gelb, rosé und grau, zu Tagesanbruch, zur Mittagszeit, im abendlichen Schatten. Ob die Besucher der Kathedrale die Ansichten kennen? Ihre Fassade gleicht einer steinernen Spitzendecke. Ihre Fensterrosette wird von bemerkenswerten Türmen flankiert: dem Butterturm im Stil des späten Flamboyant und dem „Tour Saint Romain“ auf der linken Seite.
Der “Tour de Beurre“ soll übrigens im wahrsten Sinn des Wortes dem Milchprodukt seine Existenz verdanken: Während der Fastenzeit war der Verzehr von Butter untersagt. Um dieses Verbot zu umgehen, erkauften sich reiche Bürger das Recht, trotzdem Butter zu konsumieren. Aus diesen Einnahmen finanzierte das Domkapitel den Bau des Glockenturms, der im Jahre 1506 vollendet wurde.
Immer neue, reizvolle Ecken
Stundenlang streifen wir durch Rouen, entdecken immer neue, reizvolle Ecken. Der Palais de Justice, ein verspieltes Schlösschen wie für Cinderella gemacht, ist eines der wenigen, zivil genutzten gotischen Bauwerke Frankreichs. Die Abteikirche Saint-Ouen ist mit ihren raumhohen Glasfenstern kaum weniger prächtig als die Kathedrale, und die katholische Kirche Saint-Maclou wartet mit einem besonders schauerlichen Vergnügen auf.
Der „Aître“ von Saint-Maclou
Man muss ein wenig suchen, um den von Fachwerkhäusern atriumartig gerahmten Innenhof zu entdecken, der nur auf den ersten Blick malerisch erscheint. Auf den Stütz- und Querbalken der alten Fachwerkhäuser tummeln sich Knochen und Totenköpfe, Nägel und Peitschen, Spitzhacken und Särge. Wir sind auf dem „Aître“ von Saint-Maclou, dem ehemaligen Pestfriedhof Rouens. Dass in die Gebäude am ehemaligen Pestfriedhof 1911 ein Mädcheninternat einzog, gehört ebenfalls zu den skurrilen Geschichten der Stadt an der Seine.
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