Russisches Sehnsuchtsgewässer; Heiliges Meer; Forschungsobjekt der Wissenschaft: Der sibirische Baikalsee erfüllt viele Aufgaben. Das größte Süßwasserreservoir der Erde war schon immer ein Traumziel von mir, nicht erst seit Klaus Bednarz`Buch “Ballade vom Baikalsee”. Dass eigene (Wunsch-)Vorstellungen und Realität nicht immer konform gehen, habe ich schnell während meiner Reise in den Osten Sibiriens begriffen. Denn so fern der Landstrich von der Metropole Moskau ist: Die Neuzeit mit all ihren Errungenschaften, all den negativen Einflüssen macht auch vor der Baikalregion nicht halt. Ich habe dennoch einen wahrhaft zauberhaften Ort entdeckt: die Insel Olchon, das größte Eiland im Baikalsee.
Inhaltsverzeichnis
Burchan: der Gott des Baikals
Burchan, der Gott des Baikalsees, ist gnädig mit uns. Weder schickt er uns den heimtückischen Wind namens „Sarma“, der wegen seiner meterhohen Wellen bei Bootsführern gefürchtet ist. Noch lässt er uns auf den Grund des tiefsten Sees des Welt sinken, wo uns winzige Krebse im Handumdrehen zerlegen. Wir begegnen weder Bär noch Wolf, obwohl Tausende die Taiga bevölkern und sie manchmal am Ufer des Baikals fischen gehen. Kein Erdbeben der jährlich 2000 sucht uns heim; keine Stechmücke lässt sich blicken. Selbst die Pullover, die ich vorsorglich für die Reise nach Sibirien eingepackt habe, bleiben im Koffer.
Sommermärchen am blauen Auge Sibiriens
Stattdessen erlebe ich ein russisches Sommermärchen mit wolkenlosem Himmel und Temperaturen, die das Herz wärmen. Ich blicke in das blaue Augen Sibiriens, wenn nicht gar des ganzen Planeten. Irkutsk lässt mich im Zwiespalt zurück, weil so viele der alten Holzhäuser mit ihrer reichen Zier keine Zukunft haben.
Listwjanka strotzt nur so von schmutzigem Geld. All die Fehler, die andernorts gemacht wurden, scheinen sich hier zu wiederholen. Doch dann lerne ich einen Ort kennen, der staubig, ärmlich und von der Moderne vergessen, und doch irgendwie magisch ist. Ein Ort wie ein Traumgebilde, windumtost, wellenumbraust und wunderschön. Wenn der Baikal das Herz Sibiriens ist, dann ist dieser Flecken das Mark des Baikals: die Insel Olchon. 72 Kilometer lang, maximal 15 Kilometer breit und so groß wie der Bodensee.
Mit der Fähre nach Olchon
Nach Olchon führen viele Wege. Weil die Tragflügelboote ab Listwjanka zu der größten der 27 Baikalinseln im Sommer häufig ausgebucht sind und es im autonomen Gebiet von Ust-Ordynskij ein lehrreiches Heimatkundemuseum der Burjaten gibt, ein mit den Mongolen verwandtes Volk, nehmen wir den Bus. Es ist nur ein Katzensprung vom Festland nach Olchon. Doch eine der drei Fähren, die regelmäßig und auch noch für umme zwischen Sachjurta und dem Eiland pendeln, hat heute den Geist aufgegeben.
Lange Schlangen vor dem Anleger
So bilden sich lange Schlangen vor dem Anleger – Touristenbusse, die ihre Passagierladungen ausspucken, um sie auf der anderen Seite wieder einzusammeln; russische Pkw, ganz staubig von der Fahrt durch die öde Steppe; ein, zwei Fahrzeuge mit chinesischen Kennzeichen, deren Besatzung die unfreiwillige Pause für ein Nickerchen nutzt. Die kleinen Restaurants und Souvenirgeschäfte machen das Geschäft ihres Lebens. Wer schon keine Nudelsuppe vertilgt, deckt sich zumindest mit burjatischen Ongonen ein, die vor bösem Blick und finsteren Geistern schützen sollen.
Engpass in der Hochsaison
Ich beobachte das Ein- und Auslaufen der Fähren, den Strom der Menschen mit Rucksack oder Rollkoffer. Mitarbeiter versuchen erfolglos, Ordnung ins Chaos zu bringen. Aus geschätzten 20 Minuten Wartezeit wird am Ende eine Stunde. Damit sind wir mehr als gut bedient. Denn seit einem Jahrzehnt erlebt Olchon mit seinen 1500 Einwohnern eine Besucherinvasion: von Russen, die sich den Sommerurlaub in Ägypten, der Türkei oder sonst wo nicht mehr leisten können oder wollen, von Mongolen auf den Spuren Dschingis Khans, von Europäern, die einmal das Baikal-Juwel mit eigenen Augen sehen wollen.
Als in der Hochsaison eine der Fähren ausfiel, noch dazu die größte, lag die Wartezeit bei 24 Stunden – und die Nerven bei einigen Touristen blank. Einige Gestresste versuchten, das Schiff mit dem vielsagenden Namen „Tor zu Olchon“ zu stürmen.
Auf der Insel Olchon
Olchon ist vor allem eines – ein Platz, dessen Einfachheit, ja Rückständigkeit Touristen als romantisch verklären könnten. Für die Insulaner ist er eine Heimat voller Herausforderungen. Auf einer Insel ohne asphaltierte Straßen zu leben, ohne zeitgemäße Abwasser- und Müllentsorgung ist kein Zuckerschlecken. Erst 2006 wurde Olchon ans Stromnetz angeschlossen, und die sommerliche Überbevölkerung bringt es an seine Grenzen. 35 Kilometer lang zieht sich die „Hauptstraße“ durch staubiges Terrain bis nach Khuzhir, zwingt Fahrer und Fahrzeug zum Kürzertreten.
Asphaltband von Putin?
Wer das nicht beherzigt, zahlt einen hohen Preis. Das verrät ein kurzer Blick auf lädierte Auspuffe, Stoßstangen und Felgen. Einige Einheimische wollten sich mit dem unrühmlichen Zustand der staubigen Piste zwischen Fährhafen und Hauptstadt nicht mehr zufriedengeben und wandten sich in der Fernsehsendung „Direkter Draht zum Präsidenten“ direkt an Genosse Putin.
Der, stets auf eine medienwirksame Inszenierung bedacht, schickte einen Inspekteur und versprach baldige Abhilfe. Nur wer das Asphaltband zahlen soll und wann mit dem Baubeginn zu rechnen ist, darüber schwieg sich der erste Mann im Staate aus.
Die Hauptstadt Khuzhir
Vielleicht ist das auch ganz gut so. So bewahrt sich Khuzhir den Charme des wilden Ostens. Ein Dutzend staubiger Straßen zieht sich durch den vernachlässigten Ort, an denen sich eilig zusammengezimmerte Holzhäuser, Souvenirgeschäfte, Schmuckläden und ein, zwei Supermärkte mit ziemlich mürrischem Personal aufreihen. Im Burjatenzelt gastiert gerade ein Zirkus.
An den Holzzäunen, die auch schon bessere Tage gesehen haben, werben Touranbieter – für Jeepfahrten zum Stoßzahn-Kap an der Nordspitze Olchons, fürs Trekking zum höchsten Berg der Insel oder für Reitausflüge. Oberhalb der sichelförmigen Bucht von Khuzhir, wo der Gott des Baikalsees in einer Höhle hausen soll, wurde ein Restaurant gebaut. Alkohol wird dort zwar nicht ausgeschenkt, doch dafür wartet die Panoramaterrasse mit den schönsten Blick auf Khuzhir und die vorgelagerte Bucht auf.
Die Fischfabrik ist Geschichte
Es gab Zeiten, da zählte Olchons „Hauptstadt“ 3000 Köpfe – als die Heilige Insel der Burjaten vier Jahrzehnte lang eine riesige Fischfabrik war. Ihr gehörten eigene Booten, ein eigener Fuhrpark, eigene Generatoren, die die eilends hochgezogene Arbeitersiedlung mit Strom versorgten. Zu Zeiten der Sowjets wurden Konserven mit schmackhaftem Omul bis in die DDR exportiert. Das ist Geschichte. Stark geschrumpfte Bestände machten ein mehrjähriges Fangverbot erforderlich. Der Fisch vom Pazifik, der per Eisenbahn nach Olchon geschafft und dort eingedost wurde, blieb eine Übergangslösung.
Stumme Zeugen einer kurzen Blüte
Geblieben sind stumme Zeugen dieser kurzen industriellen Blütezeit. Im kleinen Fischereihafen rosten die Trawler. Die Mole aus Holz verrottet in der See. Die Fundamente des Gulags, eines kleinen Arbeitslagers aus Sowjetzeit, sind im Steppensand versunken. Meist waren es arme Schlucker, die wegen einer Nichtigkeit verurteilt wurden und die Fischkonserven zu füllen hatten – im Sommer, wenn das Thermometer an der 35-Grad-Mark kratzte, im Winter, wenn minus 40 Grad einem die Lebenskraft raubte. Oder es waren aufmüpfige Gesellen, die nicht mit der Staatsmacht konform gingen.
Bootstour zum Schamanenfelsen
Statt Fischerbooten starten nun Ausflugsdampfer am kleinen Hafen. Sie umkreisen zu abendlicher Stunde Olchons berühmteste Sehenswürdigkeit. Der Schamanenfelsen ist zusammen mit Kap Choboi und der Felsformation der „Drei Brüder“ das touristisch reizvolle Dreigespann der überirdisch schönen Küstenlandschaft; er ist gleichsam die Visitenkarte der gesamten Baikalregion. Ohne sein Abbild kommt kein Film, kein Fotoband über Russlands Naturjuwel aus.
Wie gigantische Mammutzähne ragen die beiden Felsen aus Kalkstein und Marmor in die klare Baikalluft – ein heiliger Ort für Schamanisten und Buddhisten gleichermaßen, dem der Dalai Lama vor Jahren einen Besuch abstattete. Hier vollführten die Deuter der Geisterwelt in alter Zeit ihre geheimnisvollen Rituale, tanzten und sangen sich in Trance – wie die Indianer Nordamerikas. Sie flehten um eine reiche Ernte, um einen veritablen Fang oder um Harmonie im häuslichen Heim des Bittstellers.
Olchons Glaubenswelt
Weder missionarische Eiferer, noch kommunistische Ideologen, die dem „Opium für das Volk“ den Kampf angesagt hatten, machten dem Schamanismus den Garaus. Die Hohepriester der Naturreligion wirkten weiter. Sie arbeiteten im Verborgenen, auch wenn sie als „Schmarotzer“ und „Volksfeinde“geschmäht wurden und mit einem Bein in den Arbeitslagern standen – zum Zwecke der Umerziehung durch „gesellschaftlich nützliche Arbeit“.
Weil göttlicher Beistand nie schaden kann, sind die Dienste der paar Dutzend Schamanen auf Olchon gefragt – schließlich sind sie Seher und Therapeut in Personalunion. Der junge Alexej, der uns über Myriaden von Schlaglöchern zum Kap Choboi kutschiert, gehört zwar der orthodoxen Kirche ab. Doch ein paar schamanistische Schutzzeichen, so genannte Ongone, können nicht schaden. Sie baumeln in der Fahrerkabine seines Jeeps.
Heiliger Fels als Partystätte
Ob Burchan erzürnt, was Touristen in seinem Heim so treiben? Frauen und Kinder hielt man für zu schwach für ein Treffen mit den Göttern; Kutschen und Pferd für zu laut. Deshalb wurden die Hufe in Leder gehüllt, damit ihr Getrampel nicht die Ruhe des großen Geistes Chan-Chute-baabai störte.
Heute herrscht abends ausgelassene Volksfeststimmung am Wahrzeichen der Insel. Weltenbummler schieben sich an den „Wunschbäumen“ vorbei, die über und über mit bunten Stofffetzen geschmückt sind. Weltentdecker campieren weintrinkend und Gitarre spielend im Gras. Weltfremde klettern gedankenlos auf dem heiligen Felsen herum.
Einige bedienen sich gar am Kleingeld, das die Naturgeister besänftigen soll -ein sicherer Weg ins Unglück. So wenig besinnlich die Party am Schamanenfelsen auch wirkt! Wenn die Sonne hinter der Bergen versinkt, um die sich Sagen und Legenden ranken, wenn der nachtblaue Himmel im Widerschein der Sonne erglüht und sich die beiden Gipfel aus Kalkstein und Marmor wie Scherenschnitte abzeichnen, entfaltet sich die ganze Magie dieses besonderen Ortes.
Tourismus als Chance
Was bleibt Khuzhir, ja der gesamten Insel Olchon auch anderes übrig, als auf die Karte Tourismus zu setzen? Das bisschen Fischfang für eigene Zwecke, das bisschen Robbenjagd sichern kein Überleben. So wird munter weiter gebaut auf diesem einsamen Eiland, das für einige Wochen im Jahr von der Welt angeschnitten ist: wenn das Eis des Baikalsees die schweren Laster noch nicht trägt und Eisgang die Routen der Fähren bedroht.
An den schönsten Stränden entstehen trotz Naturschutz Hotelanlagen mit dem Flair von Jugendherbergen. In den Privathäusern, die mit Banja (Sauna) statt Wifi werben, werden mit einfachsten Mitteln Touristenzimmer angebaut, hellhörige Etablissements mit altbackenem Mobiliar. Nikitas Homestay, das wohl bekannteste Hostel der gesamten Insel, zählt schon jetzt unzählige Zimmer in nicht uncharmanten Holzhütten mit Dusche, französischem Café und dem Flair einer Hippiekommune.
Wo Baikal und Maloe More aufeinandertreffen
Wer verstehen will, warum Olchon eine ganz besondere Saite in mir zum Klingen bringt, muss hinauf zum Kap Choboi, wo das „Maloe More“, das kleine Meer, und der große Baikal aufeinandertreffen.
Noch sind sie nicht da, die Rucksackreisenden aus dem alten Europa, die Sonnenschirm-behüteten Gruppen aus Fernost, die Russen, die so gerne wild campen. Ich bin fast allein mit dem bleiernen Grau des Sees unter einem stahlblauen Himmel, dem Rauschen des Windes, dem alles erfüllenden Duft des Thymians.
Der Baikal, dieser kalte, einsame Riese, erwärmt mein Herz und lässt mich sprachlos zurück, angesichts dieses paradiesischen Fleckens. Als das Tragflächenboot am späten Nachmittag Richtung Listwjanka startet, sauge ich noch einmal Olchons Schönheit ein: die hohen, weißen Klippen, die von rotbraunen Flechten überzogen sind, die unberührten Matten, die goldgelben Strände. Gott Baikal wird über alles wachen, wenn ich wieder Zuhause bin.
Mein Dank geht an den Reiseveranstalter Studiosus, der mich auf dieser Reise unterstützt hat. Das schränkt meine journalistische Unabhängigkeit jedoch nicht ein. Möchtest du wissen, wie es weitergeht auf meiner Reise durch die Baikalregion, die sich langsam dem Ende zuneigt? Ein besonderer Wunsch geht für mich in Erfüllung: eine Etappe auf der Transsibirischen Eisenbahn von Irkutsk nach Ulan Ude. Schau einfach hier vorbei. Und wenn dir dieser Artikel gefallen hat, dann teile ihn auf deinen sozialen Netzwerken und lass es mich wissen. Denn Lob freut jeden. Und natürlich darf auch Kritik sein.