Passender könnte der Name nicht sein. Mistral heißt das ziemlich störrische Grautier, das so gar nicht wie ich will. Als ob der Wettergott diesen Akt der Verweigerung gesehen hätte, peitscht er einen eisig-kalten Wind über die kahlen Kuppen des einsamen Mont Lozère, des höchsten Gipfels des französischen Nationalparks der Cevennen. Am Übergang zwischen dem Zentralmassiv und der Ebene des Languedoc käme man mit dem Auto nicht besonders schnell voran – was einerseits an den kurvenreichen Straßen liegt, andererseits an den bezaubernden Dörfern, durch die ein Hauch von Ewigkeit säuselt. Oft bestehen sie nur aus ein paar trutzigen, schiefergedeckten Steinhäusern, aus Boule spielenden Senioren und verwilderten Gärten voller Lavendel und Thymian.
Inhaltsverzeichnis
Die Cevennen – wilder Winkel in Europa
So wenig autofreundlich sich die Cevennen präsentieren, eine der letzten wilden Ecken Europas: Für Wanderer ist der dünn besiedelte Landstrich im Hinterland von Montpellier ein Geschenk des Himmels, weil sich ein endloses Wegenetz über bewaldete Hügel, das windumtoste Hochplateau und durch tiefe Schluchten mit gurgelnden Flüssen zieht. 1985 wurde der Landstrich von der UNESCO zum Biosphärenreservat erklärt; 2011 folgte die Adelung als Weltnaturerbe.
So klein der 320 000 Hektar große Nationalpark ist, sein Naturreichtum ist überwältigend: 40 Prozent aller in Frankreich vorkommenden Pflanzenarten sind dort zu finden, darunter über 40 Orchideenarten, neben Tierarten, die andernorts ausgestorben sind – Wolf, Luchs, Biber und Fischotter. In den höheren Lagen rund um den fast 1700 Meter hohen Mont Lozère, ein Klotz aus Granit, wachsen Kiefern, Buchen und Eichen. In den tief eingeschnittenen Tälern erfreuen Kastanien, Oliven und Mandelbäume das Auge.
Ein Grautier als treuer Begleiter
Lässt sich vergnügliches Wandern noch steigern? Für Kinder auf jeden Fall in Form eines gutmütigen Grautieres. Für Christian, den Eselsführer, sind die geführten Touren durch die Cevennen ein gutes Zubrot zur kleinen Landwirtschaft. Am frühen Morgen hat er den Picknickkorb gepackt, frisches Baguette, köstliche Salami und einen würzigen Ziegenkäse darin verstaut. Und jetzt das! Mürrisch zieht er die Mütze noch ein wenig tiefer in die Stirn, stülpt den Kragen seiner winddichten Jacke hoch und murmelt unverständliche Flüche über den überraschenden Kälteeinbruch. Die Sonne steht hoch am Himmel, doch noch immer hüllen Eispanzer die Nadeln der Tannen ein, die der unablässige Nordwind ganz schief gebogen hat. Links der Straße krallen sich violett schimmernde Heidepflanzen an den mageren Berghang; auf der anderen Seite glitzern Schieferplatten golden im gleißenden Licht. Der Anblick ist grandios, wäre da nur nicht der beißend-kalte Wind, der den Wanderern Tränen in die Augen treibt.
Ein Esel namens Mistral
Mistral, den Hauptakteur der Eselswanderung, scheint das alles nicht zu stören. Unbeirrt trottet das Grautier mit den weißen Flecken auf der Brust vorwärts, lässt sich allenfalls durch ein paar verlockende Kräuter vom rechten Kurs abbringen. Ein Esel sei in der Regel eine brave Kreatur, nur eben kein Uhrwerk, das blind menschlichem Tempo folge, klärt uns Eselsführer Christian auf. Im Notfall sollten wir Mistral eher schieben als ziehen. Ein kurzer Ruck an der Leine könne ebenfalls nicht schaden. „Autorität ist alles. Ein Esel muss immer wissen, wer der Herr ist“, ermahnt der Mann aus den Cevennen seine Wanderschar. Die sehnt sich angesichts der Kühlschrank-Temperaturen nach der Wärme des sonnigen Languedoc..
Der Mont Lozère: öde und unbewohnt
Denn Urlaubsstimmung ruft das kahle Haupt der Cevennen nun wahrlich nicht hervor. Öde und unbewohnt liegt er da, der Granitkamm des Mont Lozère, eine abweisende Gesteinswüste mit einigen wenigen kümmerlichen Pflanzen. Hier hat Zeit keine Bedeutung. Wie ein Dach erhebt sich der 1699 Meter hohe Sommet de Finiels über den Cevennen, trotzt tapfer den harten Wintern mit fürchterlichen Schneestürmen und der sengenden Sonne in den Sommermonaten. Kaum etwas zeugt von menschlichen Seelen, die sich hier herauf verirrt haben. Nur ein runder Steinkreis auf dem schutzlos ausgesetzten Gipfel kündet von Schäfern, die hier Unterschlupf vor eisigen Winden fanden.
Stevenson und seine Eselsdame
In dieser rauen Natur muss sich der schottische Autor Robert Louis Stevenson im Herbst des Jahres 1878 wie daheim gefühlt haben. Den Autor, der später mit seinen Romanen „Die Schatzinsel“ sowie „Der seltsame Fall des Doktor Jekyll und Mister Hyde“ Erfolge feierte, trieb Liebeskummer in die Cevennen. Natürlich suchte der 28-Jährige auch nach schriftstellerischer Inspiration. Seine Begleitung auf der gut 200 Kilometer langen Wanderung von Le Monastier-sur-Gazeille bis nach Saint-Jean-du-Gard: eine Eselsdame, die er auf den Namen Modestine, die Bescheidene, taufte. Von wegen nomen est omen: Modestine muss ein solch halsstarriges Grautier gewesen sein, dass sich Stevenson nur mit roher Gewalt zu helfen wusste. Am Abend des ersten Wandertages habe er seinen Arm nicht mehr heben können – wegen all der Hiebe auf Modestines Hinterteil.
Die blau-schimmernden Höhenzüge, die wie Meereswellen Richtung Süden branden, prägten sich nachhaltig in Stevensons Gedankenwelt ein.
Hinter mir lag das nördliche Hochland, durch welches mein Weg geführt hatte, von einem dumpfen Menschenschlag bevölkert, ohne Wald, ohne großartige Bergformationen und in der Vergangenheit für wenig bekannt, es sei denn für seine Wölfe. Vor mir jedoch, halb verschleiert im Sonnendunst, lag ein neues Gévaudan, fruchtbar, pittoresk und berühmt für aufregende Ereignisse
notierte der 28-jährige Schotte 1878 während seiner Eselswanderung in sein Reisetagebuch. Bei Zeitgenossen galt der protestantische Sohn der Insel als reichlich spinnert: Musste man unbedingt in der Wildnis Ablenkung von einer amourösen Affäre suchen (mit der verheirateten Amerikanerin Fanny Osbourne), zu Fuß durch kaum erschlossenes Land pilgern, unter freiem Himmel schlafen und das alles in Begleitung eines sturen, trödelnden Grautieres? Das dem Aussteiger auf Zeit auch noch erbitterte Kämpfe lieferte?
Malerisches Florac
Ob Stevenson, der brillante Geschichtenerzähler auch am glitzernden Wasser der romantischen Source du Pêcher gesessen hat? An jenem Bächlein, das aus dem majestätischen Felsen von Rochefort tröpfelt, ein Stück weit unterirdisch verläuft und in Kaskaden durch die malerische Altstadt von Florac verläuft? Der Unterschied zwischen Berg und Tal könnte größer nicht sein. Oben windet sich der Pfad an einer endlosen Reihe von Marksteinen entlang, durch menschenleere Wildnis, wo sich allenfalls Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Dann geht es während der Eselswanderung durch die Cevennen in Korkenzieherwindungen einen halsbrecherischen Hang hinunter, bevor einem der Talgrund fast schon mediterran anmutet.
Überleben in Frankreichs Armenhaus
Bleierne Hitze brütet über den zusammen gerückten Häusern, die ihre Schatten in enge Gassen werfen. Platanen bilden ein grünes Dach über den Cafés. Efeu umschlingt das aus dem 17. Jahrhundert stammende Schloss, in dem die Nationalpark-Verwaltung residiert. Dahinter türmen sich die gewaltigen Felsformationen des Causse Méjean auf. Das steinige, ausgedörrte Plateau, das abrupt in Steilwänden endet, zählt ebenfalls zum Welterbe. Terrassen mit „Brot- und Goldbäumen“ säumen den Weg, erinnern daran, wie schwer das Überleben im Armenhaus Frankreichs war.
Der Brotbaum der Cevennen
Lange Zeit waren Esskastanien das wichtigste Lebensmittel in den felsigen Cevennen, weil Getreideanbau schlichtweg nicht möglich war. Die Maronen wurden gekocht, gegrillt oder zu Mehl vermahlen – weshalb die Kastanie schlicht der Brotbaum der armen Cevennenbauern war. Doch ein besonders strenger Winter zu Beginn des 18. Jahrhunderts vernichtete den Bestand. Ersatz musste her – in Gestalt von Maulbeerbäumen, um im großen Stil in die Zucht von Seidenraupen einzusteigen. Mitte des Jahrhunderts gab es bereits etwa 400 000 Maulbeerbäume in der Region, deren Blätter in urigen Steinhäusern an die hungrigen Raupen verfüttert wurden. Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts gehörten die Cevennen, der südöstliche Ausläufer des Zentralmassivs, zu den größten Seide produzierenden Regionen der Welt. Doch billige Importe und ein Schädling setzten dem florierenden Geschäft zu und die Zeit relativen Wohlstands war vorüber. Nur wenige Betriebe überstanden diese Krise, die letzte Seidenweberei wurde 1965 geschlossen.
Mit dem Esel auf und ab
Was blieb ist eine Landschaft von eigenartiger, kühler Schönheit. Die sieben Flüssen, die „sept veines“, denen die Cevennen ihren Namen verdanken, gurgeln unablässig munter gen Tal. Orte wie Monastier oder Pradelles, eines der schönster Dörfer Frankreichs, warten auf ihre Erweckung. Denn Landflucht ist überall ein Thema in diesem Landstrich, der so dünn besiedelt ist wie kein anderer in Frankreich. „
Weniger dramatisch als die Schweiz, schöner als Italien
urteilte die für ihre unkonventionellen Ansichten bekannte Schriftstellerin George Sand über den Landstrich. Er zieht seinen seinen Reiz aus dem Kontrast aus rauen Bergrücken und grünen Täler. Das ewige Auf und ab während der Eselswanderung bringt uns ins Schwitzen, doch wir saugen die Eindrücke wie ein trockener Schwamm auf. Unbarmherzig brennt die Sonne auf die dürren Kalkstein-Hochplateaus, deren distelübersäte Weiden allenfalls anspruchslosen Schafherden genügen. Durch die tiefen Canyons rauschen reißende Wildbäche wie der Tarn, die Jonte und der Lot. Die winzigen Weiler finden kaum Platz in den engen Schluchten, die alten Steinhäuser kleben gleichsam an den steil abfallenden Hängen, inmitten eines Meeres von sonnengelb blühenden Ginstersträuchen. Seit den Zeiten, als Stevenson mit seinem Esel Modestine durch die Cevennen trottete, hat sich augenscheinlich nicht viel verändert.
Zu den Schluchten von Tarn und Jonte
Hätte der exzentrische Schotte noch ein wenig mehr Zeit während seiner Eselswanderung gehabt, er hätte wohl sicher einen Abstecher in die Schluchten des Tarn und der Jonte unternommen. In Jahrmillionen haben sich die beiden Flüsse in den Kalkstein der Hochebenen geknabbert. Wo die beiden aufeinander treffen, bei Le Rozier, hat die Natur eine imposante Theaterkulisse geschaffen, von der man kaum den Blick wenden kann. Die wild zerklüfteten Steilwände schimmern in allen nur erdenklichen Rot- und Brauntönen.
Bizarre Felsen an sprudelndem Fluss
Doch während die Tarnschlucht im Besucherstrom ertrinkt, kaum dass die Saison begonnen hat und sich ganze Busladungen durch das mittelalterliche Ste. Enemie mit seinen steilen, schmalen Gassen und den malerischen Winkeln schieben, fließt die Jonte geruhsam dahin. Dabei ist sie nicht weniger schön als ihr berühmter Bruder. Bizarre, von der Erosion geformte Felsen türmen sich über dem munter sprudelnden Fluss auf. Im Sommer verschwindet er völlig in den Rissen und Spalten seines steinigen Bettes. An vielen Stellen rücken ihm die Steilwände der Causse Méjean gefährlich auf die Pelle. Große, dunkle Löcher markieren die Eingänge zu Grotten und Höhlen.
Eine der imposantesten ist der Tropfstein-Urwald von Dargilan, den ein Schäfer bei der Verfolgung eines Fuchses entdeckte. Der gute Mann glaubte, im Vorhof der Hölle gelandet zu sein. Angesichts der unvergleichlichen Farbenpracht und des Figurenreichtums, den die Natur geschaffen hat, hätte er sich wohl eher im Himmel fühlen müssen. Versteinerte Wasserfälle schillern in zartestem Rosa; ein täuschend echt wirkender Weihnachtsmann hängt an der Decke; ganze Schafherden tummeln sich auf steinernen Weiden.
Der Esel hat Konjunktur
Mag auch Stevensons amüsantes Buch über die Wanderung mit dem Esel durch die Cevennen weitgehend vergessen sein: Seine unorthodoxe Art zu reisen, noch dazu in Begleitung eines Esels rief zahlreiche Nachahmer auf den Plan. Einige versuchten, das Original mit originellen Ideen zu übertreffen – sei es mit einem schottischen Kilt als Wanderdress oder mittels Durchmarsch nach Edinburg, wo der Schriftsteller geboren wurde. 1977 vollzog eine Reporterin des amerikanischen „National Geographic Magazines“ Stevensons Reise durch die Cevennen mit großem Pomp nach, und zum 100-jährigen Jubiläum wurde die Route mit der Bezeichnung GR 70 offiziell festgelegt und markiert.
Abschied von Mistral
Wer die letzte, recht anspruchsvolle Etappe des Stevensonweges von Saint-Jean-du-Gard bis ins mediterrane und industriell geprägte Städtchen Alès umgehen möchte, für den bietet sich als Alternative eine Fahrt mit einer historischen Dampflokomotive durch das gewundene Tal des Gardon bis nach Anduze an. Soweit sind wir mit unserem Esel Mistral nicht gekommen. Am Ende unserer Wanderung sind wir richtig gute Freunde geworden. Von wegen störrisches Grautier. Brav hat es unser Gepäck getragen, uns sicheren Schrittes über Stock und Stein geführt und uns ein besonderes Wandererlebnis beschert. Zum Dank haben wir unserem tierischen Begleiter den ausladenden Hintern getätschelt, die Hufe ausgekratzt und das Fell gebürstet. Nur eines kann Mistral überhaupt nicht ab – am Ende der Tour durch die Cevennen auf einen Anhänger verladen zu werden. Esel haben eben ihren eigenen Kopf.
Hallo Roswitha,
toller Bericht. Der Weg hört sich gut an und kommt in jedem Fall auf meine To Do Liste. Allerdings werde ich ihn wohl eher ohne Esel gehen.
Liebe Grüße
Anja
Lieber Anja, natürlich ist der Weg auch ohne Eselsbegleitung schön. Dafür sorgt schon die unglaublich schöne Landschaft.