Das pittoreske Fachwerkstädtchen Einbeck im Süden Niedersachsens hätte ich womöglich niemals kennengelernt. Ungeachtet des Umstandes, dass die Stadt nahe Harz und Weser einst der Hanse angehörte und schon Luther in höchsten Tönen über das Einbecker Bier schwärmte.
“Der beste Trank, den einer kennt, der wird Einbecker Bier genannt.”
soll der Reformator auf dem Reichstag zu Worms über den Gerstentrunk aus Einbeck gesagt haben, der sich durch hohe Stammwürze und Alkoholgehalt auszeichnet und selbst am Hof der Wittelsbacher in München getrunken wurde.
Doch ich habe es nicht so mit Bier, neige eher dem Wein zu und muss auch kein „Bierdiplom“ ablegen – woran Freunde des schäumenden Gesöffs sicher ihre Freude haben. Schließlich dürfen sie sich nach theoretischem Sachkundenachweis und erfolgter praktischer Prüfung (zu leeren sind drei Einbecker Bier à 0,2 Liter) diplomierter Bierkenner nennen.
Inhaltsverzeichnis
Einbeck: Zwischen Harz und Solling
Dass ich in Einbeck gelandet bin, einem städtebaulichen Schmuckstück mit 400 farbenprächtigen, liebevoll restaurierten und reich verzierten Fachwerkbauten, war eher Zufall.
Seit einigen Jahren legen wir auf der Fahrt zur Fähre nach Travemünde einen Zwischenstopp ein. Wir steuern Orte nahe der Autobahn an, die wir normalerweise kaum auf dem Schirm haben. Vor einigen Jahren landeten wir auf diese Weise in Quedlinburg, dem Fachwerktraum im Harz.
Einbeck oder Northeim, ebenfalls eine ehemalige Hansestadt, standen dieses Mal zur Wahl. Das Rennen machte die Bierstadt, deren Brauer im 16. Jahrhundert die Methode entdeckten, das süffige, aber schnell verderbende Getränk durch Hopfung geschmacklich aufzuwerten und haltbarer zu machen.
Das „Ainpöckisch Bier” gelangte in alle Winkel des Reiches. Wenig später war „Bockbier” in aller Munde, der wirtschaftliche Aufstieg der Stadt begann. Im Jahr 1600 gab es 700 brauberechtigte Häuser in Einbeck.
Einbeck: Mitglied des Fachwerk5Ecks
Einbeck ist Mitglied im Fachwerk5Eck, einem Zusammenschluss aus fünf niedersächsischen Städten. Die haben eines im Überfluss: historische Bausubstanz, die für die Besitzer Segen und Fluch gleichermaßen ist. Neben Einbeck gehören Duderstadt, Northeim, Hannoversch Münden und Osterode am Harz dem Zweckbündnis an. Es will die historische Bausubstanz bewahren und neues Leben in die Altstädte bringen. Wohnen und arbeiten – das soll in den Orten Hand in Hand gehen, wie es jahrhundertelang der Fall war.
Einbeck: der Fachwerktraum
„Vor 450 Jahren wurde ich in mühevoller Arbeit, zusammen mit Zimmerleuten und andern Helfern, hier an der Ecke von Wolperstraße und Petersilienwasser errichtet…“. Ein Haus zum Sprechen zu bringen, das Kriege, Pest und Schicksalsschläge erlebt hat? Der gut platzierte QR-Code in der Wolperstraße 23 macht es möglich.
Das Haus aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war ziemlich in die Jahre gekommen. Doch weil Fachwerk ein Kulturgut ist und die schönen, bunten Schnitzereien zur ältesten Street Art der Stadt zählen, wurde es behutsam saniert. Nun erzählt das alte Fachwerkhaus von vergangenen Zeiten, von Höhen und Tiefen, von Leid und Glück. Entstanden ist eine kurzweilige Geschichtsreise, beginnend 1573 mit dem Bau des Hauses bis zur Familie Wittram, die dort 130 Jahre lang den Blaudruck betrieben hat, und dem Einsatz der Denkmalpaten, die das Haus retten möchten.
Das Rathaus von Einbeck
Rund 400 Fachwerkhäuser scharen sich um die Marktkirche St. Jacobi mit ihrem 65 Meter hohen Turm. Das gute Stück ist ein wenig aus dem Lot, doch das macht ja gerade seinen Reiz aus.
Gleich um die Ecke liegt das Wahrzeichen Einbecks, das historische Rathaus, dessen schieferbedeckte Erkertürme an umgedrehte Trichter erinnern. Der Vorgängerbau wurde gleichzeitig als Kaufhalle, Lagerhaus, Kornspeicher, Weinkeller, Tanzsaal, Gericht und Gefängnis genutzt.
Doch er fiel – wie viele andere Anwesen in der reichen Kaufmannsstadt – dem großen Stadtbrand im Juli 1540 zum Opfer. Der Neubau wurde auf dem gotischen Keller errichtet, dessen Kreuztonnengewölbe ein besonderes Geheimnis bewahrt. Zwischen den Säulen aus dem 15. Jahrhundert lagern bei gleichbleibend kühlen Temperaturen 9.000 Flaschen des Aged Bock der Einbecker Brauerei. Abgefüllt wurden sie 2015.
Anlaufpunkt für Touristen: das Eickesche Haus
Eine absolute Sonderstellung unter den vielen Fachwerkhäusern nimmt das Eickesche Haus in der Fußgängerzone ein. Wer die Touristinformation in dem denkmalgeschützten Fachwerkhaus der Spätrenaissance betritt, weißt sicherlich nicht, dass der Erhalt dieses Fachwerkjuwels mehrmals auf Messers Schneide stand.
Dabei ist der Figurenschmuck an dem 1612 erbauten Haus so einmalig, dass selbst der 99-Tage-Kaiser Friedrich III . staunend davorstand. Wer an dem Haus in der Marktstraße nach oben blickt, entdeckt neben üblichen Mustern wie Perlschnur, Zahnschnitt und Laubranken zahlreiche figürliche Darstellungen: den furchteinflößenden Mars, die selbstbewusste Rhetorica sowie die als römische Krieger dargestellten Atlanten an der nordwestlichen Ecke, die – je nach Stockwerk – unterschiedlich schwer an der Last des Hauses tragen. Dazwischen prangen Bibelsprüche.
Eine Stiftung rettete das Eickesche Haus
Kurz vor der Jahrtausendwende war es um das Eickesche Haus so schlecht bestellt, dass das Gebäude praktisch nur noch von den Dielenbrettern im Inneren zusammengehalten wurde. 2001 gründeten Einbecker Familien die „Stiftung Eickesches Haus“, mit dem Ziel Spenden zu sammeln, um das akut einsturzgefährdete Gebäude zu erhalten. Gut zwei Millionen Euro wurden in die Rettung des denkmalgeschützten Hauses investiert. Zum Dank gab es den Deutschen Fachwerkpreis für besonders vorbildliche und beispielhafte Sanierung.
Das Kleinod Tiexeder Straße
Die schönste Straße des Fachwerk-Kleinods ist ohne Zweifel die Tiexeder Straße. Fast alle Häuser wurden nach dem verheerenden Standbrand von 1540 errichtet und stehen unter Denkmalschutz. Davon zeugen die geschnitzten Jahreszahlen über den mächtigen runden Torbögen, die im 16. Jahrhundert typisch für Bürgerhäuser mit Braurecht waren.
Rosetten, Zunftzeichen und Inschriften schmücken die Balken. Die schmalen Gauben in den steilen Dächern dienten einst als Lüftungsschlitze, denn auf den Dachböden wurden Getreide, Malz und Hopfen für das Brauen eingelagert. Die verwunderlichen hohen Tore brauchte man, dass die Bratpfanne durchkam. Die Fässer standen in den großen Gewölbekellern der Häuser.
Das Brodhaus: eine der ältesten Gaststätten Niedersachsens
Ein Haus mit Historie ist das Restaurant Brodhaus am Markt, eine der ältesten Gaststätten Niedersachsens. Es ist Einbeck einziges erhaltenes Gildehaus, das im 14. Jahrhundert wandernden Bäckergesellen Unterschlupf bot. 1333 wurde es erstmals urkundlich erwähnt; seit 1444 trägt es den Namen Brodhaus.
Angeblich war es ein Augustinermönch, der sein geerbtes Haus der Bäckergilde schenkte. Unter Auflagen, versteht sich. Er verpflichtete die Zunft, dass sie alle Pfarrkirchen im Umkreis von zwei Meilen kostenlos mit Hostien zu beliefern hatte. Nach dem Brand von 1540 bat die Bäckergilde um Wiederaufbauhilfe: Sie könne sonst die Hostien nicht weiter unentgeltlich liefern.
Offenbar haben sich die Pfarrgemeinden nicht lange bitten lassen. Auch im frühen 18. Jahrhundert waren sie zur Stelle, als größere Renovierungen anstanden. Die Oblaten wurden zunächst von Einbecker Meistern gebacken, später kamen Bäcker aus anderen Orten dazu. Die Verpflichtung soll noch heute bestehen, allerdings scheint sie wenig nachgefragt zu sein. Heute steht der Gaumengenuss im Brodhaus im Vordergrund. Zu Flammkuchen oder Einbecker Senfsuppe gibt es natürlich das passende Bier – beispielsweise den naturtrüben Ur-Bock.
Einbeck: die Heimat des Bockbiers
Dem verdankte die einstige Hansestadt ihren Wohlstand. Mit bayerischem Bier war im späten 15. Jahrhundert nicht viel Staat zu machen. Der Historiker Johannes Turmair, der sich „Aventius“ nannte und mit seiner „Bayerischen Chronik“ das erste große Geschichtswerk in deutscher Sprache verfasste, erwähnt den Gerstensaft nicht einmal.
Einbecker Biergeschichte
Die Einbecker waren da schon weiter: Gegen Ende des Mittelalters hatte das rührige Gemeinwesen ein paar hundert Bürgerbrauereien, obwohl das Städtchen kaum mehr als 1.000 Einwohner zählte. Das Braurecht vergaben die Stadtväter gegen Gebühr; das alles mit rechten Dingen zuging, darüber wachte der städtische Braumeister.
Die Einbecker beherrschten die Kunst, durch hohen Stammwürzegehalt ein starkes, süffiges und zugleich haltbares Bier zu brauen – in Zeiten ohne künstliche Kühlung ein entscheidender Marktvorteil. Die produzierten Mengen waren so groß, dass die Ratsherren die Fässer mit dem braunen Trunk zum Wohle der Stadt verkauften. Seit dem späten Mittelalter wurde der starke Stoff über das Handelsnetz der Hanse bis ins Baltikum, nach Flandern, England und Italien exportiert. Die Celler Herzöge tranken es mit Vorliebe.
Das Hochzeitsgeschenk für Luther
Als Luther 1521 vor den Reichstag in Worms zitiert wurde, schickte ihm der Herzog von Braunschweig ein Fass Einbecker Bier als Trost und Stärkung. Bei der Heirat des Doctor Martinus mit seiner Katharina bestand das Hochzeitsgeschenk der Stadt Wittenberg ebenfalls aus Einbecker Bier.
Von Einbeck nach München
Die Wittelsbacher ließen sich für viel Geld mit dem damals in ganz Europa berühmten Bier beliefern. Doch dem hochmütigen und ziemlich verschuldeten Bayernherzog Wilhelm V. wurde das auf die Dauer zu teuer – zumal es sich bei dem Export auch noch um „Ketzerbier“ handelte- Einbeck war 1529 evangelisch geworden. Als Wilhelm – Beiname „der Fromme“ – 1592 das erste Hofbräuhaus von München in Auftrag gab, rekrutierte er den Braumeister des Hallertauer Klosters Geisenfeld, als Planer, Bauherrn und ersten Braumeister.
Nur mit der Herstellung des süffigen Biers nach Einbecker Art wollte es nicht so recht klappen. Deshalb wurde der Einbecker Braumeister Elias Pichler ins stockkatholische München gelockt.
Mit Erfolg: 1614 wurde erstmals sein Bier nach “Ainpockhischer Art” ausgeschenkt.
Daraus wurde nach und nach das „Ainpockbier“, dann der „“Oanbock“ – und schließlich der Bock. Der Starkstoff rettete München sogar vor der Zerstörung. Als der Schwedenkönig Gustav Adolf im Mai 1632 vor den Toren der Residenz stand, stimmte ihn die gewaltige Summe von 300.000 Reichstalern gnädig. Als Zugabe gab es 334 Eimer “Ainpockhisch Bier” aus dem Hofbräuhaus – was rund 22.000 Litern entsprach.
Das Einbecker Brauhaus
Heute hält das Einbecker Brauhaus die Tradition lebendig. Ihre grünen Flaschen mit den unverwechselbaren Etiketten stehen in den Regalen der Einbecker Lebensmittelgeschäfte. Besucher können bei Werksführungen erleben, wie die Bierspezialitäten nach überlieferten Rezepten gebraut werden.
Der Einbecker Bierpfad
Wissenswertes über die Geschichte des Bockbiers lässt sich auf einem Spaziergang über den gut 2,5 Kilometer langen Bierpfad innerhalb der alten Wallanlagen erfahren. Die dienten einst nicht nur zur Wasserversorgung der Stadt; man brauchte sich bis zur Erfindung elektrischer Kühlgeräte im 20. Jahrhundert zur Kühlung während der Bierherstellung.
Verfehlen lässt sich der Pfad nicht. Die auf den Boden aufgesprühten Markierungen in Form von Bierfässern weisen den Weg zu den acht interaktiven Stationen. Dort kannst du die Geschichte vom Hund „Hopf“ hören, dich virtuell im alten Gewölbe des Rathauskellers umsehen oder das StadtMuseum entdecken, wo in echt der „Knochenschüttler“ zu sehen ist: ein hölzernes Fahrrad mit Reisen aus Eisen, das auf dem Kopfsteinpflaster Einbecks sicherlich nicht rückendschonend war.
Einbeck: Das Rad erobert Deutschland
Wer den kleinen weißen Bierfässern durch die historische Altstadt folgt, landet unweigerlich beim Neuen Rathaus. Der mehrstöckige Bau ist zwar auch ein Fachwerkhaus, doch weil die Fassade dekorativ mit Schiefer verkleidet wurde, erinnert nichts an den hölzernen Unterbau.
Die preußische Armee nutzte den gleichsam ungewöhnlichen, wie repräsentativen Bau als Kaserne. Doch seine große Zeit kam erst, als der Versandhändler August Stukenbrok das Anwesen 1907 kaufte.
Der Kaufmann war 1888 nach Einbeck gekommen, bezog ein bescheidenes Zimmer in der Marktstraße 42 und verdingte sich als Handlungsgehilfe. Nur zwei Jahre später eröffnete er eine kleine Fahrradhandlung mit großem Namen: Deutschland-Fahrräder. Das neuartige Transportmittel kostete damals mehrere hundert Mark, und obwohl Stukenbroks Warenlager anfangs nur ein einziges Rad umfasste, verkaufte er im ersten Geschäftsjahr 28 Stück.
Motiviert durch diesen Erfolg stieg Stukenbrok in den Versandhandel ein. Jetzt konnten Kunden Kunden nicht nur Fahrräder, sondern auch zahlreiches Zubehör ordern. Später kamen Motorräder dazu. 1896 verschickte die Firma das 1000. Fahrrad. Und im neugegründeten Radfahr-Verein war Stukenbrok aktives Mitglied.
Kaserne wird zum Kontorhaus
Die Geschäfte liefen so gut – zu ihren besten Zeiten verschickte die Firma eine Million Versandkataloge pro Jahr-, dass der Unternehmer die ehemalige Kaserne als Kontorhaus nutzte. Hier wurden später auch Fahrräder produziert. Für sich und seine Familie ließ er in unmittelbarer Nähe eine Villa mit Wintergarten und wunderschönen Jugendstilfenstern errichten.
In den 1930er Jahren ist die Fahrradherrlichkeit made in Einbeck vorüber. Stukenbroks Tochter Hertha muss Konkurs anmelden. Ins Kontorhaus zieht 1997 die Stadtverwaltung ein. Die Privatvilla in riesigen Stiftspark wird heute von der Musikschule genutzt und kann bei speziellen Stadtführungen besichtigt werden.
Extratipp für Einbeck: der PS.Speicher
Doch nicht nur Zweiräder haben Einbecks Geschichte geprägt. Im PS.Speicher ist Europas größte Oldtimersammlung mit mehr als 2.500 historischen Fahrzeugen zu sehen. In dem ehemaligen Kornspeicher etwas abseits der Altstadt bekommen selbst jene glänzende Augen, für die ein Auto nur ein schnödes Fortbewegungsmittel ist.
Wie wäre es beispielsweise mit dem Benz Patent Motorwagen Nr. 4, der noch immer fahrtüchtig ist und sogar eine Straßenzulassung besitzt? Hübsch ist auch der blaue Peel P50, der mit seinen 1,35 Metern ein rechtes Raumwunder ist. Und in dem DeLorean DMC 12 hat schon Marty McFly in „Zurück in die Zukunft“ Platz genommen. Hollywood lässt grüßen!
Wer die automobilen Schmuckstücke nicht nur sehen, sondern auch fahren will, wer wissen möchte, wie es sich anfühlt, ein Fahrzeug ohne Servolenkung, Bremskraftverstärker und Stabilitätskontrolle zu bewegen – der kann sich einen der Oldtimer für einen Tag oder ein Wochenende ausleihen. Den Horch 830 BL aus dem Jahr 1936, ein flottes Cabrio mit Achtzylinder-Motor, gibt es aber nur mit Fahrer.
Wenn ihr schon mal in der Ecke seid: Hann. Münden ist absolut sehenswert. Auf Family4travel gibt es den passenden Blogbeitrag.
[…] Roswitha von Bruder auf Achse widmet sich der Stadt als Ziel für einen Zwischenstopp nahe der Autobahn und dabei vor allem dem allgegenwärtigen Thema Bier: “Bier, Oldtimer und ganz viel Fachwerk“. […]