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Dörfliches Leben am Oberlauf des Amazonas

In Manaus haben wir noch nicht einmal die Hälfte unserer 3800 Kilometer langen Reise zwischen Bélem und Iquitos in Peru hinter uns. Am Oberlauf des Amazonas, dem Rio Solimões, gibt es bis zur kolumbianischen Grenze nur noch kleinere Orte – wie Jutai, zu denen ich euch mit diesem Beitrag entführen will. Und natürlich will ich auch von der Natur des wasserreichsten Flusses der Erde erzählen.

Insektenparadies Amazonas

Über Nacht hat sich das Schiffsdeck zu einem Landeplatz für Insekten verwandelt. Schwarze Käfer, glänzend wie chinesische Lackdöschen krabbeln zu Hunderten über den Boden. Schmetterlinge, groß wie ein Füllfederhalter suchen sich ein schattiges Plätzchen auf dem Amazonasschiff. Trotz der frühen Stunde brennt die Sonne erbarmungslos vom Himmel. Die paar weißen Schleierwolken schützen kaum vor dem gleißenden weißen Auge.

Dieser Schmetterling war gut 20 Zentimeter breit.

Als seien sie sich des nahen Hitzetodes bewusst, suchen die Käfertiere die Nähe ihrer Artgenossen. So schaurig die wuselnden Haufen auch sind: Gefesselt beobachte ich einen der schwarzen Krabbler, der strampelnd auf dem Rücken liegt und mittels kleiner Hüpfer versucht, wieder auf die Stummel-Beinchen zu kommen. Das Glück wiedergewonnener Freiheit dauert nur kurz. In der sengenden Sonne über dem Amazona verwandelt sich der Landeplatz der Insekten zu einem Friedhof der Käfertiere. Beim  nächsten Regenguss werden sie über Bord gespült. Die Piranhas und der Arapaima, der wahrscheinlich größte Süßwasserfisch der Welt warten schon.

Tausende von Flüssen münden in den Amazonas.

Oberhalb von Manaus hat der Amazonas noch immer titanische Ausmaße. Südamerikas Lebensader lässt die typischen Amazonasschiffe wie Nussschalen wirken. Keine Markierung, keine Fahrwassertonne lenkt ihren Weg, und überall droht Gefahr durch Sandbänke. Entwurzelte Baumstämme aus dem Reich der Riesen treiben im Wasser, ganze Inseln aus saftig-grünem Wassersalat schwimmen gen Osten – eine stete Gefahrenquelle für die empfindlichen Schiffsschrauben. Der nächtliche Rumms gegen den Bug hat nichts Gutes verheißen. Einer der Urwaldriesen hat sich so unglücklich in der Schraube verfangen, dass es der Hilfe zweier Taucher bedarf, um den „blinden Passagier“ wieder los zu werden.

Amazonien: ein menschenleeres Paradies

Ich bin mittendrin in dieser klimatischen Hölle, wo es weder Winter, noch Sommer gibt, nur Regenzeit und Trockenzeit. Doch mir erscheint die Landschaft  nicht wie ein unwirtlicher Ort, eher wie ein scheinbar menschenleeres Paradies voll tropischer Pflanzen und tierischer Überlebenskünstlern. Manchmal ist der Strom so breit, dass die Ufer nur als schmaler dunkler Strich am Horizont auszumachen sind und ich mich wie ein Gestrandeter auf einem fernen Planeten fühle. Dann wieder rückt die grüne Hölle dem Flussdampfer so nahe auf den Pelz, dass der Betrachter die um Licht und Regen konkurrierenden Urwaldriesen und ihre Bewohner mit bloßem Auge ausmachen kann. Viele Bäume sind über fünfzig Meter hoch, etliche über 200 Jahre alt, und alle sind großzügig mit Epiphyten bestückt. Die grünen Gebilde – mal kugelrund wie ein Fußball, mal länglich wie ein Wassertropfen -sind keine Schmarotzer, sondern ein wichtiger Beitrag zum ökologischen Gleichgewicht. In ihnen nisten bunte Vögel, leben ganze Ameisenvölker.

Die Riesenseerose besitzt enorm starke Blätter und wunderschöne Blüten, deren Pracht allerdings nur zwei Nächte anhält.

Ich begreife, dass spektakulär nicht aufregend sein muss. Schmale Seitenarme, überwuchert von einem Teppich aus Wasserhyazinthen, zweigen rechts und links ab, um irgendwo im Nirgendwo zu enden. Im Zeitlupentempo gleiten weites grünes Schwemmland, Galeriewälder voll wild wuchernder Vegetation und goldgelb schimmernde Sandbänken vorbei, die heute hier und morgen dort sind. Ich habe längst die Orientierung verloren, an welcher Stelle wir uns gerade befinden. Ist dies noch der Río Japura?Oder schon der Juruá? Oder womöglich ein winziger Wasserarm, den nicht einmal die Amazonasstämme eines Namens für würdig erachteten. Mit jedem Wasserträger des Amazonas steigt meine Achtung für die Schiffslenker, die sich in diesem bukolischen Labyrinth zurechtfinden, und für die Menschen am Fluss, die klaglos mit seinen Launen leben.

Knapp 17 000 Menschen leben im brasilianischen Jutai, so groß wie das Saarland.

Ein lautstarkes Konzert aus dem Regenwald weckt mich am nächsten Morgen, neben der Aussicht, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Ich gebe zu, ich musste das 17 000 Einwohnerstädtchen Jutai mit den Ausmaßen des Saarlandes erst auf der Landkarte suchen. Denn im verwirrenden Geäst des Amazonas und seiner Zuflüsse verlieren sich menschliche Ansammlungen, werden Dörfer und Städte gleichsam von der grünen Mauer geschluckt.

Leben am Rio Solimões

Auf der Landkarte ist Jutai, ebenso wie das deutlich kleinere Amatura, das wir morgen besuchen werden, nur ein Fliegenschiss. Doch dann stellen sich die beiden Orte, die weder Hochglanzbilder, noch Historie zu liefern haben, als quicklebendige Siedlungen heraus. Für die Einwohner sind wir eine höchst willkommene Abwechslung zum Alltag. Dem Leben am und mit dem Fluss: Nirgendwo kommen wir ihm auf dieser Reise näher als in Jutai und Amatura. Und erneut stellt sich die Frage, wer denn nun das Objekt der Begierde ist – die schwitzenden Touristen vom Flussdampfer oder die Einheimischen, die die geballte Fotoattacke auf die eigentlich unspektakulären Seiten ihres Daseins klaglos über sich ergehen lassen.


Jutai liegt – wie könnte es auch anders sein – am gleichnamigen Fluss, einem Schwarzwasser, das sich mit unzähligen Windungen im Urwald verliert. Ein paar einfache Stelzenhäuser, die sich bei genauerem Hinsehen als Fischerhütten, Tankstelle und Wartehallen für Schiffsreisende entpuppen, säumen das Ufer. Dahinter erhebt sich auf einer kleinen Anhöhe der beschaulich wirkende Ort inmitten des Regenwaldes, wo Kolumbien und Peru näher sind als Brasiliens brummende Städte an der Atlantikküste.

Das brasilianische Jutai wird regelmäßig von einem der typischen Amazonasschiffe angelaufen.

Am Hafen, wo Fähren und die typischen Amazonasschiffe Passagiere und Ladung ausspucken, gibt es kein Kreuzfahrtterminal mit heiß herbeigesehntem WLAN, keinen Souvenirshop mit Tiefkühlhausatmosphäre, nicht mal einen richtigen Landungssteg, über den es sich bequem Richtung „Hauptstraße“ spazieren ließe. Nur einen betagten, vor Rost starrenden Ponton und einen schmalen Pfad durchs Dickicht, der sich während des nachmittäglichen Wolkenbruchs in eine schlammige Rutschbahn verwandeln wird. Unscheinbar, geradezu unspektakulär wirkt das Städtchen mit seinen einstöckigen Häusern, deren leuchtend rote, türkise, pinke, grüne und blaue Anstriche wahrscheinlich nicht einmal die nächste Regenzeit überdauern. Doch dafür geht es in dem Geviert aus gepflasterten und gestampften Wegen äußerst lebendig, geradezu geschäftig zu.

Motorisierte Zweiräder sind das wichtigste Transportmittel in den Dörfern am Oberlauf des Amazonas.

Rollentausch ist angesagt. An der Promenade, wo Bäume mit weit ausladenden Kronen für Schatten sorgen, werden Handykameras gezückt – nicht etwa von den Europäern, deren helle Haut sich in den vergangenen Tagen je nach Sonnenbaddauer in ein zartes Rosa, ein beunruhigendes Rot oder ein Kaffeebraun verwandelt hat. Es sind die Einheimischen, die in Empfangskommandostärke angetreten sind. Ein halbes Dutzend Mototaxi-Fahrer, die an ihrer einheitlichen Tracht zu erkennen sind, wittert gute Geschäfte. Fliegende Händler breiten Jeans, T-Shirts und Büstenhalter mit Fake-Polstern auf einer Plastikplane aus. Ein paar betagte Greise decken sich für 20 Reales mit frischgefangenem Fisch ein.

Passagen mit den typischen Amazonas-Schiffen sind in jedem Ort zu buchen.

Es wird gekichert und beäugt, manchmal auch misstrauisch begutachtet, doch solche Aliens, noch dazu welche in kurzen Hosen und völlig durchschwitzten T-Shirts, bekommen die Menschen in Jutai nicht oft zu Gesicht. Schon gar nicht nach dem sonntäglichen Gang in die Kirche, die in der Stadt am großen Strom ebenso zahlreich sind wie die Hotels und Herbergen, die mit Aircondition, Wifi und Amazonasblick locken.

Ein paar Impressionen aus dem brasilianischen Jutai: Blütenpracht vor der eigenen Hütte….
…eine der einfachen Hütten…
… und der Friedhof.

Mit unseren paar Brocken spanisch kommen wir nicht weit, auch wenn ich mir redlich Mühe gebe, das Ganze irgendwie Portugiesisch klingen zu lassen. Doch was Worte nicht vermögen, schafft der ausgiebige Gebrauch von Händen und Füßen. Ein genäseltes Bom Dia wird mit einem freundlichen Lächeln garniert. Die Daumen-hoch-Geste für die brasilianischen Hitparaden-Knaller, die in Bigband-Lautstärke die ganze Straße beschallen, wird mit ungekünstelter Begeisterung quittiert. In einem der unzähligen Geschäfte, wo es von der rustikalen Schrankwand bis zur Stihlsäge alles zu kaufen gibt, was das Leben fernab der Metropolen angenehmer macht, entpuppt sich der schlichte Kauf von Wasser als Türöffner.

Ganz schön modisch: ein Kleidergeschäft in Jutai.

Offenbar hat das Wort niño einen besonderen Nerv bei Maria getroffen, die zusammen mit ihrer Mutter und einer Cousine das Geschäft betreibt, wo es neben Colaflaschen, Urwald-untauglichen High Heels und rosafarbenen Pailletten-Fummeln auch mit Glitzersteinchen bestickte, weiße Kleidchen für die erste Heilige Kommunion zu kaufen gibt. Ein paar freundliche Worte, ein offenes Lächeln, schon kenne ich jeden Spross Marias höchstpersönlich: die beiden neun und 13 Jahre alten Töchter, den siebenjährigen Sohn, nicht zuletzt den Großen, der in Peru arbeitet, wie die Brasilianerin mit erkennbarem Stolz in der Stimme erzählt.

Brasilianer lieben es bunt- die Hütten in den Amazonas-Dörfern sind in Bonbonfarben gestrichen.

Gegen Mittag gleicht Jutai einer Dampfsauna. Die abgemagerten Haushunde haben sich unter einen schattigen Busch verzogen, die Katzen ins Hausinnere, wo Fernseher einen ebenso exponierten Platz einnehmen wie in europäischen Haushalten. Nur dem Gürteltier, das sich ein kleiner Junge als reichlich schuppiges Kuscheltier hält, scheint die Mörderhitze nichts auszumachen. Wir retten uns auf ein kühles Bier ins Restaurant Dona Alda und sehen dem sonntäglichen Treiben zu. Motorräder mit dreiköpfiger Besatzung knattern vorbei, der Ernährer vorn, die Dame des Hauses im Sonntagsstaat hinten, der Nachwuchs im Krabbelalter dazwischen. In dem kleinen Laden mit den roten Plastiktischen und den braunen Holzstühlen brummt das Geschäft. Die durstigen Touristen kippen Bier und Wasser die Kehle hinunter, die Hungrigen aus Jutai gehen aus – während im Hintergrund die brasilianische Ausgabe der „Voice Kids“ über den Bildschirm flimmert. Reis, Spaghetti und Bohnen köcheln in riesigen Töpfen, auf dem Grill im Freien brutzeln Hähnchen und sonstiges Getier.

Wieder ein unbeschreiblicher Sonnenuntergang am Amazonas.

Zurück im kleinen Hafen schleiche ich mich zurück auf den schneeweißen Amazonas-Doppeldecker, dessen unterstes Deck unter Tonnen von Handelsgütern ächzt – Säcke voller Orangen, Gasflaschen, Tonnen mit Maniokmehl. Noch baumeln erst wenige Hängematten im oberen Deck, das über eine schwindelerregend schmale Treppe zu erreichen ist. Doch spätestens am Abend, wenn die „Lemos“ Richtung Manaus aufbricht, wird es dort wie in einer Sardinenbüchse zugehen. Es gebe noch Platz für die zweitägige Reise, verrät mir der Bootsmann mit einem offenen Lächeln. Doch für uns heißt es: flussaufwärts. Iquitos, Perus Urwaldmetropole ohne Straßenanschluss, wartet, und das Ende unserer 3800 Kilometer langen Reise auf dem Amazonas rückt näher.

 

Zum Abschluss noch ein paar Impressionen von dieser 3800 Kilometer langen Reise. Wenn ihr Fragen habt, wenn ihr wissen wollt, was zu beachten ist, meldet euch. Und ich freue mich über alle Kommentare. Wenn euch die Geschichte gefallen hat, dann teilt sie doch über eure sozialen Netzwerke.

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Roswitha:
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