„Canada’s Ocean Playground“ – der Slogan auf den Autokennzeichen von Nova Scotia könnte nicht besser gewählt sein. Die mit 55 284 Quadratkilometern für kanadische Verhältnisse fast schon winzige Provinz wird von allen Seiten von Wasser umspült: vom Atlantischen Ozean, der Bay of Fundy, der Northumberland Strait und dem St. Lawrence Golf. Dennoch ist Nova Scotia keine Insel. Neuschottland hängt quasi am Haken des Nachbarn New Brunswick. Der wohl übermütigste, auf jeden Fall feucht-fröhlichste Zeitvertreib, den Touristen und Einheimische wagen können? Das sogenannte Tidal Bore Rafting, auf der Tidenwelle in der Bay of Fundy.
Inhaltsverzeichnis
Rafting am Shubenacadie River
Jack, der junge Kanadier, lotst das Zodiac mitten hinein in die rollenden Wellen. Als wäre eine geheime Macht am Werk steuert das schwarze Schlauchboot urplötzlich himmelwärts, um Sekunden später kopfüber abwärts zu rauschen. Wer vorne sitzt, kommt um die unfreiwillige Dusche mit zwölf Grad warmem Wasser nicht herum. Die Brühe schwappt eimerweise in das Schlauchboot, klatscht wütend gegen die Gesichter, rinnt eiskalt den Rücken hinab, lässt T-Shirts und Unterwäsche patschnass am Körper kleben. Unter anderen Umständen wären die Greenhorns in Sachen „Tidal bore Rafting“ wohl wenig erfreut über diesen Guss, doch keine Spur von Entsetzen. Mit jeder neuen Welle, jeder neuen Husche wird die Stimmung in dem kleinen Boot ausgelassener, werden die Jauchzer lauter, verwandeln sich gestandene Mannsbilder in jauchzende Kinder, denen der Weihnachtsmann die heiß begehrte Modelleisenbahn gebracht hat. Nur fliegen ist schöner, als dieser heiße Ritt auf den Strudeln des Shubenacadie Rivers an der Westküste Nova Scotias.
Rafting-Eleve bei den “Riverrunners”
Worauf er sich eingelassen hat, ist dem Rafting-Eleven spätestens auf dem Stützpunkt der „Riverrunners“ klar geworden. Die Handvoll junger Kanadier, die das kleine, auf Outdoor-Aktivitäten spezialisierte Unternehmen betreiben, kennen ihre Pappenheimer. „Die Jeans zieht ihr lieber aus, die saugen sich mit Wasser voll“, raten Sie Ihrer Kundschaft, die mit mitleidigem Blick auf das gemächlich dahinfließende Flüsschen starren: Dieses Rinnsal soll Wildwasserqualitäten in sich haben, seinen Bezwingern Action pur bescheren? Doch zweifeln gilt nicht. Also raus aus den Jeans, hinein in ein blau-schwarzes Körperkondom, das seinen Träger wie ein aufgepumptes Michelin-Männchen aussehen lässt. Statt praktischer Turnschuhe gibt es wasserdichte Gummistiefel.
Dass das Laufsteg-untaugliche Schuhwerk durchaus Sinn macht, zeigt sich schon beim Marsch Richtung Zodiac: Knöcheltief sinken die menschlichen Watschelenten im lehmig-braunen Match ein, geben dabei Laute von sich, die irgendwo zwischen Saugen und Glucksen angesiedelt sind. „
Wenn ihr über Bord geht, Ruhe bewahren und sich treiben lassen
gibt Jack der vierköpfigen Runde mit auf den Weg, ein Fingerzeig, der das mulmige Gefühl in der Magengegend eher befeuert, denn besänftigt. Dabei ist der rotblonde Naturbursche ein alter Hase im Rafting-Geschäft, ein erfahrener Zodiac-Driver, der seit einigen Jahren für die „Riverrunners“ arbeitet. „Mein älteste Kunde war ein 94-jähriger Altenheimbewohner, der mal was Besonderes erleben wollte“, erzählt er mit unverkennbarem Grinsen im Gesicht. Und der agile Greis habe den abenteuerlichen Trip schadlos überlebt. Nur ein einziger Passagier sei bei ihm über Bord gegangen, „der fiel einfach hinten über“.
Möglich wird das spritzige Vergnügen durch die besonderen Verhältnisse in der Bay of Fundy, die Kanadas Atlantikprovinzen Nova Scotia und New Brunswick voneinander trennt. Mit ungeheurer Kraft quetscht sich der Atlantik in den 220 Kilometer langen, fjordähnlichen Einschnitt, spült unglaubliche 50 Milliarden Tonnen Seewasser in die Bucht und lässt Flüsse wie den Shubenacadie plötzlich aufwärts fließen. Bei Ebbe sieht die Bucht aus, als habe Moses gerade das Rote Meer geteilt oder jemand den Stöpsel aus der Badewanne gezogen: Boote liegen windschief auf dem schlammigen Meeresboden, flache Uferzonen haben sich in Steilküsten verwandelt, kleine Orte hängen in der Luft. Sechs Stunden später gehören solche Bilder der Vergangenheit an, versinkt alles wieder in den Fluten.
Ritt auf der Tide für Adrenalinjunkies
So gewaltig ist das Kräftespiel aus Ebbe und Flut, dass die Meeresfluten wie ein ehrgeiziger Baumeister wirken. Mit unstillbarem Hunger nagen sie an den steilen Böschungen, buddeln Höhlen aus, zerren übermütig an Brückenpfeilern. Bei Vollmond kann der Wasserstand in der Bay of Fundy schon mal um sagenhafte 20 Meter ansteigen – im Vergleich dazu sind die Verhältnisse an der deutschen Nordseeküste ein Klacks. Bessere Bedingungen für das Tidal Bore Rafting, das mindestens so viel Nervenkitzel bietet wie eine Achterbahnfahrt, finden Adrenalinjunkies nirgendwo auf der Welt.
Dabei beginnt der Abenteuertrip eher gemütlich. Mit ruhiger Hand lenkt Jack seinen Zodiac zu einer der zahlreichen Sandbänke des Shubenacadie, an dessen Ufer etliche Weißkopfseeadler nisten.
Geht nicht zu weit weg, die Flut kommt schneller als man denkt
gibt der junge Mann seiner Handvoll Passagiere mit auf den Weg, die zielstrebig über die topfebene Stelle mit dem Wellenmuster stapfen.
Schaumgekrönte Meeresflut
Schnell ist überhaupt kein Ausdruck. Kaum sind Jacks Worte verklungen, schwappt die rotbraune Brühe auch schon gegen die Gummistiefel. Wie aus dem Nichts rauscht die schaumgekrönte Meeresflut flussaufwärts, staut sich an Flachstellen, gebiert eine Welle nach der anderen. Innerhalb kürzester Zeit brodelt es im Shubenacadie wie in einem Kochtopf – für Jack der Startschuss für den heißen Ritt auf den Wellen. Ein ums andere Mal steuert er sein Boot mitten hinein ins nasse Vergnügen, lässt es wie einen Korken auf den Wellenkämmen tanzen, bevor es mit Karacho hinabdonnert, in eine Wand aus Gischt und Wasser, die alles und jeden für Sekunden verschlingt. Drei-, viermal wiederholt sich das Spektakel, bevor es weiter flussaufwärts geht, zur nächsten Sandbank mit noch größeren Strudeln. Der Volksmund hat den einzelnen Abschnitten Namen verliehen. Während die Passage „Beaver“ selbst Neulingen als harmlos erscheint, brodelt und gurgelt es am „Killer“ wie in einer Höllenküche.
Der Atlantik mit seinen unwiderstehlichen Kräften macht sich sogar auf den Nummernschildern der lang gestreckten Provinz breit. „Canada‘s Ocean playground“ steht da zu lesen, und der Slogan von der Spielwiese des Meeres kommt nicht von ungefähr. Die Bay of Fundy mit ihrem Überfluss an Nahrung ist das reinste Schlaraffenland für Meeressäuger. In den Sommermonaten pflügen Buckel-, Finn- und Zwergwale zu Dutzenden durch die Bucht, nachdem sie einst mit Feuereifer gejagt und beinahe ausgerottet wurden. Kegelrobben sonnen sich auf den Felsen, Reiher halten nach frischer Nahrung aus der schier unerschöpflichen Speisekammer des Meeren Ausschau.
Die Wale stehen unter Schutz, andere kostbare Meerestiere aus dem maritimen Schlaraffenland hingegen auf den Speisekarten der Restaurants. Im Fischerörtchen Digby, das sich selbstbewusst „Hauptstadt der Jakobsmuschel“ nennt, kommt die feine Delikatesse mit dem zarten weißen Fleisch nicht selten in Golfball-Größe auf den Teller. Und Hummer gibt es ohnehin an jener Ecke, auf Wunsch mit Pommes und Ketchup als Beilage. „Mein Vater“, erzählt Pamela Wamback von Nova Scotia Tourism, „hat sich als Kind regelrecht geschämt, weil er immer nur mit Hummer belegte Pausenbrote bekam“. Selbst als Dünger für den Garten musste der einst ungeliebte Beifang herhalten. Heute kommen selbst Imbissbuden und Fast-Food-Ketten nicht um Homarus americanus herum, tischen ihn in Form von Hummer-Sandwich, Hummer-Pfannkuchen und Hummersuppe auf. Und natürlich als Hummer-Chips für die abendliche Fernsehrunde.
Dabei schmeckt er frisch gekocht, ohne viel Schnickschnack, höchstens verfeinert mit etwas flüssiger Butter am besten. Im kleinen Fischerort Hall`s Harbour, wo Boote bei Ebbe wie gestrandete Wale auf dem Trockenen liegen, können Liebhaber der Delikatesse die blau-grauen Ungetüme höchstpersönlich auswählen. Soll es ein klitzekleines Exemplar der Größe S sein, oder ein rechter Kaventsmann in XL-Format? Im „Lobster Pound“, das Restaurant und Souvenirgeschäft in einem ist, gibt es für jeden Hunger das passende Tierchen; besser und günstiger gibt es den eiweißreichen Meeresbewohner nirgendwo in Nova Scotia. Die Bestellung gibt das Schleckermäulchen direkt an der Kasse auf, wo die Scherenträger noch putzmunter durch Aquarien krabbeln. Wenig später hauchen sie in einem brodelnden Kessel ihr Leben aus. Knapp 20 Minuten später landet die kulinarische Köstlichkeit, nur in typisch orange, servierfertig auf dem Teller.
Die Wartezeit von 20 Minuten nutzt Mitarbeiter Lowell Simpson, um die Lobster-Laien aus Europa mit Homarus Americanus bekannt zu machen. In dem Örtchen an der Bay of Fundy-Küste, wo kaum mehr als ein paar blau getünchte Hütten und Container stehen, werden bis zu 60000 Pfund lebende Hummer vorgehalten. Es gebe Rechts- und Linkshänder, Weibchen seien um die Mitte breiter als die Herren der Schöpfung. Die größten Exemplare, die mehrere Pfund auf die Waage bringen, landen ohnehin auf dem asiatischen Markt. Für all jene, die dem Meeresbewohner nicht mit genügend Achtung entgegen treten, gibt es noch eine Demonstration der besonderen Art – wenn das Schalentier im Handumdrehen eine Muschelschale in Einzelteile zerlegt.
Ein Lobster für daheim
Wer gar nicht genug von der kalorienarmen Köstlichkeit bekommen kann: In der Abflughalle des Flughafens Halifax dümpeln unzählige Lobster in einem Wasserbecken vor sich hin. Flugtauglich verpackt überstehen die tierischen Passagiere selbst den längsten Flug.
Wenn du noch mehr Ideen für den Osten Kanadas brauchst, dann lege ich dir die Beiträge von Travelsanne ans Herz. Susanne hat ganz viel Tipps für Rundreisen zusammengetragen – angefangen bei der Anreise, über die Sehenswürdigkeiten in Nova Scotia, Brunswick und den Gaspésie Nationalpark bis hin zu Übernachtungstipps. Meine Reisebloggerkollegin hat wie ich ihr Herz an Kanada verloren.