Neun Tage am Baikalsee, der Perle Sibiriens, dem Stolz Russlands. Der See sprengt alle Vorstellungen, ist Rekordhalter in gleich mehrfacher Hinsicht. Keiner ist älter, tiefer, wasserreicher. Irkutsk mit seinen alten Kaufmannsvillen und den wunderschönen Holzhäusern war die erste Station dieser Reise. Von hier geht es nach Listwjanka, der sibirischen Sommerfrische, nur eine Stunde vom “Paris des Ostens” entfernt.
Inhaltsverzeichnis
Das Tor zum Baikal
Listwjanka! Ist nicht schon der Name pure Verheißung? Bilder von Mütterchen Russland schwirren mir durch den Kopf: von windschiefen Holzhäusern mit Enten und Gänsen davor, von hart arbeitenden Fischern und alten Frauen, die ihr schütter gewordenes Haar unter einem Kopftuch verbergen. Listwjanka, das Tor zum Baikal, verdanke seinen Namen den Lärchen, die gar prächtig auf dem nahe gelegenen Lärchenkap gedeihen, steht im Reiseführer zu lesen. Bei gutem Wetter seien die schneebedeckten Gipfel des Chamar-Daban-Gebirges auf der Ostseite des Baikal zu sehen. Dass Peking nur in Schlagdistanz vom “Heiligen Meer” der Burjaten entfernt liegt und Chinesen – dank Visumfreiheit – ausgesprochen gerne ins Lärchendorf kommen, steht leider nicht drin.
Entsprechend ernüchtert bin ich vom ersten Anblick der „Baikalperle“. Die war im 18. Jahrhundert dem Deutschstämmigen Johann Gottlieb Georgi eine Erwähnung wert. Der Forscher bereiste den See, der eigentlich ein Meer ist, auf einfachen Fischerbooten und war der erste, der die 2000 Kilometer lange Küste des Baikal detailliert beschrieb. Damals waren Reisende ab Irkutsk drei, vier Tag unterwegs. Heute brauchen die regelmäßig startenden Linienbusse eine gute Stunde.
Weltpolitik in Listwjanka
Eisenhower sei dank. Der amerikanische Präsident wollte sich nämlich ausgerechnet am Baikal mit dem Generalsekretär der KPdSU Nikita Chruschtschow treffen – ein Wunsch, der die Kreml-Funktionäre gehörig ins Schwitzen brachte. Denn die Straße von Irkutsk ins 70 Kilometer entfernte Listwjanka war eine holprige Trasse, keineswegs Gipfeltreffen-tauglich. So musste der alte Kiesweg in Rekordzeit asphaltiert werden, und Listwjanka wurde zum Endpunkt der kürzesten Autobahn Russlands, des Baikaltrakts. Zudem bekam das Lärchendorf einen Prachtbau, der im Volksmund nur Eisenhowers Datscha hieß. Der Brunnen für Irkutsk sprudelt noch heute munter weiter.
Saunafreundschaft am Baikal
Die Russen hatten sich umsonst ins Zeug gelegt, denn aus dem Treffen der beiden mächtigsten Männer der Welt wurde nichts. Nach dem Abschuss eines amerikanischen Spionageflugzeugs über dem Ural blieb Eisenhower lieber daheim. Drei Jahrzehnte später ließ sich Helmut Kohl über den russischen Highway kutschieren, um mit dem trinkfesten Boris Jelzin am Baikal die legendäre Saunafreundschaft zu begründen. Weil es immer mehr Russen, Chinesen und Europäer zum Mekka am Heiligen Meer zieht, wird die Straße jeden Sommer ein Stück weiter ausgebaut.
Russische Sommerfreuden
Wer nicht in einem Rutsch nach Listwjanka durchrauscht, sondern sich Zeit für Entdeckungen nimmt, erlebt typisch russische Sommerfreuden. Kleine Datschen mit liebevoll gepflegten Gärten zur Selbstversorgung verstecken sich in der unendlichen Taiga. An der aufgestauten Angara, dem einzigen Abfluss des Baikals, stehen feudale Villen mit Motorbooten vor der Tür. Am Straßenrand verkaufen russische Großmütterchen Beeren und Zirbelnüsse. Kleine Restaurants servieren Piroggen und burjatische Buusy, köstlich gefüllte Teigtaschen, die erst ausgeschlürft und dann verspeist werden. In der Handvoll Orte entlang der Straße werben eilig hochgezogene Herbergen um Gäste.
Vom sagenumwobenen Schamanenfelsen, der sich einst bis anderthalb Meter aus dem Wasser erhob und den Übergang zwischen See und Fluss markiert, ist nur noch ein Fitzelchen zu sehen – weil der Wasserstand im Baikal-Abfluss durch den Bau des Irkutsker Kraftwerks gewaltig angestiegen ist. So müssen sich die Schamanen, die sich allen Bestrebungen der Christianisierung und Sowjetisierung widersetzten, neue Kraftort für ihre geheimnisvollen, mehrere Tage dauernden Rituale suchen.
Burchan als Reisebegleiter
Doch auch ohne den Glauben an Naturgeister, ohne Vertrauen zu Burchan, den Gott des Baikalsees, der uns auf dieser Reise noch häufiger begegnen wird, ist der Blick über die fast einen Kilometer breite Angara magisch. Vor uns liegt Port Baikal am anderen Flussufer, wo Eisenbahnpassagiere einst auf Fähren überwechseln mussten. Hinter uns erhebt sich der Cerskij-Felsen, den Fußfaule mittels Seilbahn erreichen. Rechter Hand erstreckt sich die spiegelglatte Oberfläche des Baikal. Die schneebedeckten Berge in 40 Kilometer Entfernung sind zwar nicht zu sehen – dafür liegt zu viel Dunst über diesem russischen Märchen aus sakralem Wasser und mit Schäfchenwolken getupftem Himmel -, doch angesichts der Schönheit dieses überwältigenden Naturwunders stellen sich bei mir Nichtigkeitsgefühle ein.
Der Brunnen der Erde
So viele Superlative auf einmal, für einen See, in den Belgien bequem hineinpassen würde. Es gab ihn schon vor 25 Millionen Jahren; er gilt als „Brunnen der Erde“ : Immerhin beherbergt der 673 Kilometer lange Baikal 20 Prozent der Süßwasserreserven unserer Erde. Die würden ausreichen, die Menschheit 40 Jahre mit dem Leben spendenden Nass zu versorgen. Zehnmal so lang braucht die Angara, um das Wasser des burjatischen Meeres einmal auszutauschen.
Mysteriöser Baikalsee
Trotz unzähliger Forschungsprojekte zum Baikal, der seit 1996 zum Weltkulturerbe zählt: Unzählige Mysterien ranken sich um das fast 1700 Meter tiefe Sehnsuchtsgewässer – angefangen beim Gold der Zaren, das vorsorglich im See versenkt wurde, über geheimnisvolle UFO-Sichtungen und eidechsenartige Monster. Und natürlich taugt der Vielbesungene auch als russisches Bermudadreieck, das reihenweise Schiffe und Boote verschluckt.
Zu den geheimnisvollen Kreisen, die im Winter im Eis des Baikal zu sichten sind, gibt es dagegen eine ziemlich unspektakuläre Erklärung. Weil der Baikal an der Schnittstelle zweier Kontinentalplatten liegt, kommt es auf dem Grund des Sees immer wieder zu heftigen Gaseruptionen, die das Eis dünner werden lassen. Die Drift der beiden Kontinentalplatten sorgt dafür, dass der Baikal weiter wächst – um jährlich zwei Zentimeter. In vielen Millionen Jahren wird aus den See ein Meer geworden sein.
Das Fischerdorf boomt
Mit den ersten Häusern Listwjankas ist der magische Moment vorbei. Es ist Wochenende, und scheinbar hat sich halb Irkutsk auf den Weg zu dem einstigen Fischerdorf gemacht, das sich fünf Kilometer lang am Baikal hinzieht. Stoßstange an Stoßstange schieben sich die Autos über die Hauptstraße; die wurde nach dem Dichter Maxim Gorki benannt. Auf jedem freien Fleck parken PS-strotzende Geländewagen und Touristenbusse. Auf dem Miniaturstrand, nur durch eine Mauer von der Uferstraße getrennt, genießen Sonnenanbeter den sibirischen Sommer.
„Der Baikal heizt sich ganz schön auf“, meint Yelena augenzwinkernd beim Blick auf die paar Hartgesottenen, die sich prustend in das höchstens 15 Grad warme Wasser wagen. Dann schon lieber ein zünftiges Picknick in den ziemlich armseligen Bretterbuden, wo eingelegte Gurken, Nudelsuppe und undefinierbares Fleisch aufgetischt werden. Gegen die heftige Portion Fett hilft nur ein ordentliches Glas Wodka.
Die Naherholungsmeile von Irkutsk
Noch vor wenigen Jahren war Listwjanka touristisches Niemandsland. Ein paar private Pensionen, ein Intourist-Hotel, das bessere Zeiten gesehen hat: Mehr gab es nicht in der Naherholungsmeile von Irkutsk. Das Leben spielte sich rund um den kleinen Hafen ab. Das Wasser für die kleinen Holzhäuschen, die sich an die Hänge schmiegen, lieferte der See. Doch seitdem Listwjanka zur Tourismus-Sonderwirtschaftszone erhoben wurde, verändert sich das einst verschlafene Dörfchen mit Lichtgeschwindigkeit.
Chinesen als Investoren
Überall in dem 2000-Seelendorf wird gehämmert und gebaut, schießen protzige Hotels für Urlauber mit größeren Ansprüchen wie Pilze aus dem Boden. Das in Pastellfarben gehaltene „Majak“ mit seiner beliebten Dachterrassenbar ist schon äußerlich ein Leuchtturm in doppeltem Sinn. Gleich daneben stehen rosarote Puppenhäuser für Ken und Barbie sowie klassizistisch angehauchte Privatvillen.
Welcher Investor sich hinter den oft halb fertigen und ziemlich überdimensioniert wirkenden Stahl-Skeletten verbirgt, weiß Yelena nicht. Doch dass Chinesen beim Ausbau Listwjankas zum Ganzjahreskurort kräftig mitmischen, steht außer Frage. Dass hochfliegende Pläne und nüchterne Realität zwei paar Stiefel sind, zeigt sich am nächsten Morgen, als ein LKW zu nachtschlafender Zeit zum Abpumpen der hoteleigenen Sickergrube anrückt. Wo das Abwasser entsorgt wird, will ich lieber nicht wissen.
Der Omul: Russlands Kultfisch
Schreckensmeldungen von Umweltschützern, dass sich die Wasserqualität des Baikal stetig verschlechtert und in Uferzonen ein hartnäckiger Algenteppich den eins glasklaren See bedeckt, tut Yelena als „westliche Panikmache“ ab. Immerhin steht das Zellulosekombinat von Baikalsk, das den See mit krebserregenden Dioxinen, Phenolen und Chlorverbindungen vergiftete, seit 2013 still. Gefahr drohe eher aus der Mongolei, wo man ein Auge auf die Wassermassen der Selenga, des größten Baikalzuflusses, geworfen hat.
Der Omul – Russlands Kultfisch und Lebensgrundlage vieler Menschen der Baikalregion, den jeder Tourist einmal probieren möchte – ist dermaßen dezimiert, dass die Behörden ein Fangverbot erlassen haben. Präsident Putin setzte höchstpersönlich einen Schwarm junger Fische aus. Der Schutz der sibirischen Naturperle habe oberste Priorität erklärte der Allgegenwärtige, der angeblich selbst ein Haus in Listwjanka besitzt.
Die Schätze des Baikals
Im Museum des Limnologischen Instituts bekomme ich immerhin einen waschechten „Baikalhering“ zu Gesicht – wenn auch nicht geräuchert oder leicht gesalzen. Die kleine Ausstellung ist eine wahre Fundgrube für Wissbegierige, die mehr über die 3600 Tier- und Pflanzenarten erfahren wollen. Von denen ist die Hälfte endemisch, kommt also nur im Baikal vor. Große Schautafeln erklären die Entstehungsgeschichte des Sees. Geheimnisvolle Geräte registrieren kleine und größere Erdstöße. Fische, Würmer und Schnecken bevölkern das Dutzend Aquarien. Hier begegnet mir epischura baikalensis, ein ziemlich winziger Ruderfußkrebs, der sich als Putzkolonne über kranke, geschwächte oder tote Organismen hermacht. Selbst zwei ziemlich rundliche Baikalrobben -noch so eine endemische Art – lümmeln hinter der Glasscheibe. Allerdings wirkt das Duo reichlich traumatisiert von seinem engen Gefängnis.
Im Pribaikalskij Nationalpark
Mehr hat Listwjanka nicht zu bieten, von Souvenirgeschäften, Radverleihern und der sehr schönen Nikolajikirche einmal abgesehen. Am nächsten Tag nehmen wir das Boot ins 18 Kilometer entfernte Bolschije Koty, das ein beliebtes Ziel für Wanderer auf dem Great Baikal Trail ist. Mitten im Pribaikalskij Nationalpark wird mein russisches Märchen wahr. Neben der Bootsanlegestelle grasen schwarz-gescheckte Kühe. Pferde mit wehenden Mähnen galoppieren umher. Stubentiger mit glänzendem Fell schleichen um die Häuser. Stockrosen und Ginster blühen in den Gärten. 83 Menschen leben ganzjährig hier, Menschen wie Slawa und Lena, für die ein Ort wie Listwjanka viel zu hektisch ist.
Leben in Bolschije Koty
Warum auch sollten Sie hinüberfahren? In ihrem kleinen Paradies gibt es doch alles: eine kleine Kirche, ein gut sortierter Tante-Emma-Laden, eine Bibliothek. Nur die Poststation habe schon lange geschlossen, erzählen die beiden, während sie in Salz und Knoblauch eingelegte Gurken, Graupeneintopf und frischen Fisch unter einer fluffigen Haube aus Käse und Sauerrahm auffahren.
Friedensschluss mit Listwjanka
Abends schließe ich dann doch noch meinen Frieden mit Listwjanka; mit den Horden chinesischer Touristen, mit den Souvenirgeschäften und dem unsäglichen Kitsch, sogar mit dem protzigen „Majak“. Die Piña Colada spottet zwar jeder Beschreibung, doch die blaue Stunde raubt mir den Atem. Das Panorama ist so weit wie blau. Bis zum Horizont reicht das glatte Tuch des Baikal, dessen dunkles Azur nahtlos in den wolkenlosen Himmel übergeht. Die Stille ist so übermächtig, dass ich den Flügelschlag der Möwen zu hören glaube. Ein letztes feuriges Aufbäumen der Sonne, dann versinkt Russlands ganzer Stolz in tiefem Schwarz.
Mein Dank geht an den Reiseveranstalter Studiosus, der mich auf dieser Reise unterstützt hat. Meine journalistische Unabhängigkeit bewahre ich mir trotzdem. Möchtest du mich auf dieser Reise begleiten? Dann bleib einfach dabei! Die nächste Station ist die Insel Olchon, die als Herz des Baikalsees gilt.