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Am Baikal entlang: auf Tuchfühlung mit der Transsib

Zwei Kontinente, sieben Zeitzonen und 9288 Kilometer. Der nüchterne Satz kann die Superlative dieser Zugstrecke zwischen Moskau und Wladiwostok nur bedingt beschreiben. Das Abenteuerliche einer Reise mit der Transsib lässt sich ohnehin nicht in Worte fassen. Ich schwanke immer ein wenig zwischen Begeisterung und Bedenken. Für einen alten Eisenbahnfan ist die Bahnreise durch das größte Land der Erde natürlich ein Lebenstraum. Und wer wollte nicht die klangvollen Städte, die großen Ströme wie Jenissei oder Amur sehen und zuletzt den See der Rekorde, den Baikal?

Kilometerschilder zeigen an, wie weit der Reisende auf der 9288 Kilometer langen Transsib schon gekommen ist.

Regel- oder Touristenzug?

Andererseits ist da dieses Grummeln in der Magengrube. Zugfahren nur um des Fahrens willen, ohne wirklich Zeit, das Fremde kennenzulernen? Der Gedanke an unbequeme Nächte in einem miefigen Zugabteil, an schlecht gelaunte Mitreisende und Katzenwäsche in Sanitärräumen, in die man sich spätestens am zweiten Tag nur noch mit geschlossenen Augen und Nase hineinwagt, trägt ebenfalls nicht zur Begeisterung bei. Erfahrungen aus Interrailzeiten und sechs Wochen Indien per Zug lassen sich nicht einfach ausblenden.

Hinzu kommt: Meine Russischkenntnisse beschränken sich auf das Alphabet und einige mehr oder weniger hilfreiche Floskeln; nicht unbedingt die besten Voraussetzungen, um einen Linienzug zu besteigen. Die Fahrt mit einem der ziemlich exklusiven Touristenzüge, bei der mehr Zeit für die Besichtigung der Städte bleibt, kommt für mich ohnehin nicht in Betracht – nicht allein wegen des Preises. Wer will die schönsten Wochen des Jahres schon mit bierbäuchigen Amerikanern, snobistischen Engländern und all den anderen Neureichen verbringen, die an einem Urlaubsziel vor allem schätzen, wenn sie nicht allzu sehr mit den Gegebenheiten vor Ort belästigt werden.

Der Baikal als “Zugbegleiter”

Während der Reise an den Baikal, die mich zunächst nach Irkutsk, Listwjanka und auf die Insel Olchon führte, gab es die Chance, zumindest ein wenig Transsib-Feeling zu erleben. Zwischen Irkutsk und Ulan Ude liegen zwar nur 456 Kilometer, doch dafür gilt der Abschnitt als einer der Schönsten – dank des nahen Baikalsees und des wunderschönen Selenga-Tales. Das Heilige Meer der Burjaten begleitet uns geraume Zeit während der rund achtstündigen Fahrt.

Mit Liebe renoviert: Zum 100. Geburtstag der Transsib bekam der Bahnhof von Irkutsk einen neuen Anstrich verpasst.

Ein Palast als Bahnhof

Dass die Transsibirische etwas Besonderes ist, ein Symbol nationaler Größe, zeigt sich schon am Bahnhof in Irkutsk. Der wirkt mit seiner prächtigen, in gelb und grün gehaltenen Fassade nicht etwa wie ein schnödes Bahnhofsgebäude, sondern eher wie ein Adelspalast, dessen Besitzer gerade Bären in der Taiga jagt. Vor einigen Jahren muss der Anblick noch ein anderer gewesen sein, wie unsere Führerin Yelena verrät. Anlässlich des 100. Geburtstages der Transsibirischen Eisenbahn im Jahr 2016 wurde der lang gestreckten Front eine Farbauffrischung verpasst.

Die Geschichte der Transsib

Es war der spätere Zar Nikolaus II, der am 31. Mai 1891 in Wladiwostok etwas Erde in eine Schubkarre schaufelte und so den offiziellen Spatenstich für den Bau der Transsib durch den wilden Osten des Zarenreiches vollzog. Die Eisenbahn war gewissermaßen das Mittel, um die gewaltige Landmasse zwischen Ural und Pazifik zu erschließen. Kosaken hatten das nahezu menschenleere Sibirien für das Zarenreich „erobert“. Doch St. Petersburg oder Moskau waren buchstäblich Lichtjahre entfernt.

Anschluss von Sibiriens reichem Naturgarten

Der Abstecher von Nikolaus zu seinen fernen Untertanen, die nie zuvor ein Mitglied der Herrscherfamilie zu Gesicht bekommen hatten, glich einer Weltreise. Monatelang war er unterwegs, per Kutsche, zu Pferd und auf Flussdampfern. Die Rückreise dauerte kaum kürzer. Da Ja zu dem Megaprojekt durch den „reichen Naturgarten Sibiriens“ wurde mit vielen Argumenten untermauert.

Zum einen galt es die gewaltigen Kolonialgebiete im Osten stärker an Russland zu binden. Zum anderen gab es handfeste wirtschaftliche Interessen für den Bau der längsten Eisenbahnstrecke der Welt. Sibiriens immenser Reichtum an Bodenschätzen schien plötzlich zum Greifen nah. Die Transsib sollte zur Drehscheibe des Handels zwischen Europa und Ostasien werden. Nicht zuletzt wollte man auf dieser Route Truppen nach Osten verlegen, um für kriegerische Auseinandersetzungen gerüstet zu sein.

Die Transsib ist noch immer die Lebensader Russlands. Je kleiner die Zugnummer, desto besser die Waggons.

Symbol der Modernisierung

Es dauerte 25 Jahr bis das Symbol einer ungestümen Modernisierungspolitik fertig war und erstmals ein Zug die ganz Strecke befahren konnte – eine ziemlich kurze Bauzeit angesichts der Tatsache, dass die Erbauer mit widrigem Klima, unberechenbaren Permafrostböden und schwierigen Nachschubwegen für das Baumaterial zu kämpfen hatten. Selbst das Holz für die Bahnschwellen musste aus dem europäischen Teil Russland herbeigeschafft werden. In der Taiga war nicht genügend Hartholz zu finden.

Entlang der Strecke entstanden Gießereien, Zementfabriken und Sägemühlen. Weil es nicht genügend Arbeitskräfte gab, wurden Armeen aus Wanderarbeitern aus Ostasien angeworben. Unterstützt wurden sie von Arbeitsbataillonen der Arme und Tausenden zwangsverpflichteten Häftlingen. Richtig fertig wird die Transsib wohl nie. Erst 2002 war die Strecke zwischen Moskau und Wladiwostok vollständig elektrifiziert. Auf der Abzweigung über Ulan Ude zur mongolischen Grenze sind noch Dieselloks unterwegs.

Gemächlich durch Sibirien

Mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 60 Kilometern pro Stunde ist die Transsib auch keine wirkliche Expressverbindung. Deshalb erfreuen sich die Flüge in die Pazifikmetropole großer Beliebtheit. Viel teurer als die sechs bis sieben Tage und Nächte dauernde Zugfahrt seien sie nicht, erzählt uns Yelena. Russlands stählerne Lebensader ist zwar das Rückgrat der Infrastruktur des Riesenreiches, doch mit ihrer wirtschaftliche Bedeutung hapert es. Über die Sibirienmagistrale laufen nur fünf Prozent des Frachtaufkommens zwischen dem asiatisch-pazifischen Raum und Europa.

Einer der schönsten Abschnitte während der Transsibfahrt zwischen Irkutsk und Ulan Ude: das Selenga-Tal.

Breitwandkino vor dem Zugfenster

Die gemächliche Fahrt hat Vorteile. Wie im Breitwandkino ziehen die unterschiedlichsten Landschaftstypen vor dem Fenster vorbei – unberührte Taiga, die sich im Frühjahr in ein Meer aus rosafarbenen Rhododendron-Blüten verwandelt, bezaubernde Dörfer mit bunten Holzhäusern und Schöpfbrunnen im Garten sowie der endlos scheinende Spiegel des Baikalsees. Yelena hat für uns Zug Nummer 4 gebucht, und weiht uns vorsorglich in die Geheimnisse russischer Bewertungskriterien ein. „Je kleiner die Nummer, desto besser der Zug“, diktiert sie uns in die Gehirnwindungen.

Reisen im Zweite-Klasse-Abteil

Klingt vielversprechend für die nächsten acht Stunden, zumindest nach gewohntem Intercity-Komfort. Ganz so feudal ist Zug Nummer vier dann doch nicht. Das Zweite-Klasse-Abteil ist zwar nur mit vier Personen belegt, doch für deren Koffer und Taschen reicht der Stauraum kaum aus. Die Polster haben schon bessere Zeiten gesehen. Die Klimaanlage wird während der Fahrt nach Ulan Ude immer wieder den Geist aufgeben – kein Vergnügen angesichts der großen Fenster und der hochsommerlichen Temperaturen davor. Saunaverdächtig geht es in Wagen Nr. 8 zwar nicht zu, doch zeitweise zeigt das Display stolze 28 Grad.

— und noch eine Impression aus dem Selenga-Tal.

Es gilt Moskau-Zeit

Am meisten irritierte mich die Uhr, die so gar nicht zu den Tageszeiten passen will. Um die Passagiere beim Durchqueren von Zeitzonen nicht völlig zu verwirren, gilt in allen russischen Zügen nämlich Moskauer Zeit. Folgerichtig sind wir in Irkutsk nicht kurz nach elf Uhr in den Zug eingestiegen, sondern kurz nach sieben. Unser kärgliches Mittagsmahl in dem in die Jahre gekommenen Speisewagen ist laut Uhrzeit ein verspätetes Frühstück.

Nachtrag: Seit einiger Zeit gehört diese ziemlich gewöhnungsbedürftige Zeit-Regelung der Vergangenheit an. Ab sofort gilt Ortszeit.  Das macht Mut, sollte ich mich doch mal für die ganze Strecke entscheiden.

Wo geht’s zur ersten Klasse?

Ich begebe mich erst mal auf Entdeckungsreise, nach der legendären Ersten Klasse, wo sich zwei Reisende ein Abteil teilen und das Ticket dreimal so viel wie in der Holzklasse kostet. Ich kämpfe mich durch schmale Gänge, vorbei an uniformierten Schaffnerinnen, die gemusterte Wolldecken und frische Bettlaken an die Neuzugänge verteilen, vorbei an leise vor sich hin köchelnden Samowaren, die mit Kohle beheizt werden.

Zu den Essenszeiten wird die Schlange der Passagiere vor den dampfenden Ungetümen immer länger, denn ein Großteil besorgt sich hier sein heißes Wasser für den Tee und offenbar äußerst beliebte Tütensuppen und Instant-Nudeln. Im Speisewagen herrscht dagegen gähnende Leere. „Den meisten Reisenden ist das zu teuer“, erzählt Ekaterina, die mit ihrer Enkelin nach Tschita reist und ganz offensichtlich vor der Abreise den Kühlschrank geplündert hat.

Holzklasse auf russisch: In der Platzkartny ist Privatsphäre ein Fremdwort.

Wir Ausländer sind da weniger sparsam: Schaffnerin Maria, die sich um unser Wohlergehen zu kümmern hat, verkauft Kekse, Schokolade und Souvenirs. Die russischen Teegläser mit den typischen silberfarbenen Haltern kosten umgerechnet zehn Euro. Wenn es der offizielle Becher zur Fußball-WM sein soll, ist der dreifache Preis fällig.

Souvenir von der Transsib-Reise: ein Teeglas mit kunstvoll verzierter Halterung.

Ein Blick in die Platzkartny

Die erste Klasse habe ich nicht entdeckt, weil Zug Nummer vier schlicht keine hatte. Stattdessen stolpere ich in die sogenannte Platzkartny, die dritte Klasse. Dort lernt der Reisende ungeschöntes russisches Leben kennen.

Die Holzklasse in dem offenen Großraumwagen gleicht einem Mannschaftslager, das sich bis zu 54 Reisende teilen müssen. Die meisten liegen schlafend auf den Pritschen, andere vertreiben sich die Zeit mit Kartenspiel. Nackte Füße baumeln über die Bettkante, verraten, dass der Besitzer wohl ziemlich groß gewachsen ist. Junge Mütter stillen ihren Nachwuchs. Männer stutzen ihren Bart. Privatsphäre darf der Reisende in dieser Zugklasse nicht erwarten. Ein empfindliches Näschen sollte er auch nicht haben. Es riecht nach Schweiß, Käsefüßen und Knoblauchwurst.

Eine der vielen Brücken, die die Transsib auf ihrem Weg nach Osten überqueren muss.

Ein Blick in Putins Reich

Wer so reist, gerät unweigerlich in den ewigen Kreislauf aus schlafen, essen und aus dem Fenster schauen. Das rhythmische Rattern des Zuges lullt einen ein, die Wärme macht schläfrig. Die Zugfenster sind ein Schaufenster in Putins Reich, mit Details einer entschwundenen Zeit. Je weiter sich die Transsib von den Trabantenstädten entfernt, von den trostlosen Plattenbauten mit ihrem sozialistischen Einheitslook, desto weiter werden die Uhren zurückgedreht.

Der Bahnsteig als Basar

Alte Fabrikgebäude tauchen auf, an denen noch Hammer und Sichel prangt. Pferdegespanne voller Heu ziehen vorbei. Ein altes Väterchen pflügt sein Feld, wie es der Großvater und Urgroßvater vor ihm getan haben. Jeder noch so öde Bahnhof entlang der Strecke verwandelt sich in einen geschäftigen Basar, wenn zahnlose Babuschkas mit Hackfleisch und Spinat gefüllte Pelmenis, Räucherfisch und frisches Obst verkaufen. Auf Außenstehende wirkt dies alles wie ein romantisches Idyll. Oder sind es Anzeichen für eine von Armut begleitete Rückständigkeit?

Der Bahnhof in Ulan Ude ist längst nicht so prächtig wie der von Irkutsk

Endstation Ulan Ude

Als Zug Nummer 4 abends in Ulan Ude einläuft, füllt sich der Bahnsteig im Nu mit Menschen. Kofferträger schleppen das Gepäck die Treppen hoch. Taxifahrer machen gute Geschäfte mit den Transsib-Reisenden. Auf mich wartet der größte Leninkopf der Welt, ein fünf Meter großes Ungetüm aus Granit, die russisch-orthodoxe Kathedrale mit ihren vergoldeten Spitzen und die tanzende Fontäne vor dem Opernhaus. Sie erstrahlt zu nächtlicher Stunde in allen Farben, ist Treffpunkt für Jung und alt. Ob Ekaterina schon ihre Liege bezogen hat, im Platzkartny nach Tschita? Ich bin ganz froh, dass mir dieses Los erspart bleibt. Denn nichts geht über ein ordentliches Bett.

Tanzende Fontänen zu klassischer Musik: der Springbrunnen vor dem Opernhaus in Ulan Ude.

 

Die Circum -Baikal-Bahn
Einst war sie einer der wichtigsten Abschnitte der Transsibirischen Eisenbahn, heute wird sie nur noch von einigen wenigen Regional- und Touristenzügen genutzt: die 84 Kilometer lange Circum -Baikal-Bahn am südwestlichen Ufer des Baikals 1904 wurde sie als letztes fehlendes Glied zwischen Sljudjanka und Port Baikal fertiggestellt. Zahlreiche Tunnel, Wassertürme und unzählige Brücken trieben die Baukosten nach oben, weshalb der aufwändige Bauabschnitt „goldene Gürtelschnalle“ genannt wurde. Als in den 1950er Jahren der Angara-Staudamm in Irkutsk gebaut wurde, wurde die Krugobaikalski stillgelegt. Die neue Transsib-Strecke zwischen Sludjanka und Irkutsk verläuft jetzt im Hinterland. Eine Fahrt auf der Circum-Baikal-Bahn ist für Eisenbahnfans ein echtes Muss. Von Irkutsk aus ist die Fahrt an einem Tag zu meistern. Zunächst geht es per Bus nach Listwjanka, von dort mit der Fähre nach Port Baikal. Mit dem Zug geht es bis nach Sludjanka, wo Reisende das einzige Bahnhofsgebäude der Welt empfängt, das vollständig aus örtlichem weißen Marmor errichtet wurde. Die alte Trasse ist mittlerweile auch beliebt bei Wanderern.

 

Ihr möchtet mehr über Reisen auf der Transsib erfahren? Dann lege ich euch den Reiseblog andersreisen von Gerhard ans Herz. Der Salzburger kennt sich nicht nur mit dem luxuriösen Zarengold aus, er kann auch viele Tipps zum Regelzug geben. Über Gleisnost können beispielsweise Tickets für die Transsibirische Eisenbahn gebucht werden, ebenfalls über RussianRailways. Ebenfalls sehr hilfreich bei der Planung einer individuellen Reise ist die Seite Transsib-Tipps.

In Ulan Ude endete auch meine Reise durch die Baikalregion. Ich bin reich beschenkt worden – mit unvergesslichen Bildern vom Baikal, mit bleibenden Erinnerungen an herzliche Menschen, mit einem Mehr aus Wissen über einen Landstrich, den ich bisher nur aus Büchern und Filmen kannte. Wenn dir mein Reisetagebuch gefallen hat, dann kommentiere fleißig und teile es  auf deinen sozialen Netzwerke. Denn Applaus ist der Lohn des Künstlers. Mein Dank geht an den Reiseveranstalter Studiosus, der mich auf dieser Reise unterstützt hat. Meine journalistische Unabhängigkeit bewahre ich mir trotzdem.

Roswitha:
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