Einmal den größten Fluss dieser Erde befahren und in den undurchdringlichen Regenwald am Amazonas eintauchen: Wer sich auf eine solche Reise begibt, betritt wirklich Neuland. Es ist nicht allein die Entfernung von 3800 Kilometern, die zwischen dem brasilianischen Belém und der Urwaldmetropole Iquitos auf peruanischem Boden liegt. Es ist der Mythos dieses Strom, der all unsere Vorstellungen einer Flussreise auf den Kopf stellt. Während der 18-tägigen Schiffstour sind wir durch Städte gestreift, die nur noch ein blasses Abbild ihrer einstigen Pracht sind, haben Indianer besucht, die den Spagat zwischen Vergangenheit und Gegenwart meistern, haben eine Vorstellung davon bekommen, welch ungeheurer Schatz der gefährdete Regenwald darstellt. Der Amazonas war unser Highway in dünn besiedelte Landstriche, in die keine Straßen führen. Gleichzeitig war er unsere Leinwand für großes Landschaftskino. Begonnen hat die Reise in Belém, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Pará, die weit weniger berühmt als Manaus ist.
Inhaltsverzeichnis
Das Tor zum Amazonas
Belém, das Tor zum Amazonas ist nichts für empfindliche Nasen. Am kleinen Fischereihafen, wo die bunten Boote bei Ebbe nicht eine Handbreit Wasser unter dem Kiel haben, hängt eine Wolke aus Pisse, Abgasen und verfaulendem Müll in der Luft. Bei Temperaturen um die 30 Grad verfault, verwest und vergärt alles, was achtlos weggeworfen oder bewusst entsorgt wurde: Fischgedärm, das der erbarmungslosen Sonne am Äquator ausgesetzt ist, Obstschalen, Fleischreste – der faulige Geruch über der Stadt erhält beständig Nahrung. Dabei geben die Fischerboote und Seelenverkäufer im Hafenbecken am Ende der Avenida 16 de Novembro durchaus ein idyllisches Bild ab – mit ihren kunterbunten Anstrichen, den originellen Namen und den Hängematten, die in der leichten Brise schaukeln. Wären da nur nicht die Horden schwarzer Aasgeier, die tollpatschig an der Uferpromenade herumhüpfen und nach Fressbarem im Schlamm suchen. „Sie sind die fünfte Kolonne unserer Müllabfuhr“ erklärt Barbara, die es vor 40 Jahren aus der Oberpfalz in den Bundesstaat Pará verschlagen hat, in den die Bundesrepublik bequem dreimal hineinpassen würde. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob es die Brasilianerin mit deutschen Wurzeln nun ernst meint oder nicht. Ich jedenfalls lege keinen Wert darauf, den ziemlich hässlichen Vögeln näher zu kommen.
Schlüssel zu Amazonien
Belém: Millionenmetropole mit strategisch wichtiger Lage, Profiteur des einstigen Kautschukbooms, urbaner Schlüssel zu ganz Amazonien – die Abhandlung im Reiseführer über die Hauptstadt des Bundesstaates klingen vielversprechend. Doch Zuneigung, gar Liebe auf den ersten Blick will sich an diesem Morgen nicht einstellen. Liegt es an der bleiernen Müdigkeit nach dem elfstündigen Flug, der zum Schluss einen Vorgeschmack auf das Gekröse aus Flüssen, Lagunen und Seen gab? An der schweißtreibenden Temperatur jenseits der 30-Grad-Marke? An den sich mächtig aufblähenden Gewitterwolken, die sich am frühen Nachmittag wolkenbruchartig über die Stadt und ihre Bewohner ergießen werden? Oder liegt es ganz einfach an Belém, diesem lauten, chaotischen Konglomerat aus morbidem Alt und gesichtslosem Neu. Die schmucklosen Hochhäuser im neuen Teil der Millionenmetropole rauben der Altstadt buchstäblich die Luft zum Atmen; sie verstellen zudem den Blick auf die alternde Diva in die Bucht von Guajará, deren Schönheit Jahr für Jahr mehr schwindet.
Belém: ein Werk der Portugiesen
Es waren Portugiesen, die die strategische Bedeutung dieser Landzunge erkannten. Vor über 400 Jahren errichteten sie eine erste Befestigung, tauften das Bollwerk auf den Namen Forte do Presépio und kontrollierten von dort aus das Amazonasdelta sowie das unerschlossene Hinterland. Das hatte Francisco de Orellana im 16. Jahrhundert als erster Europäer durchquert und nach den kriegerischen Damen aus der griechischen Mythologie benannt. Die trutzigen Mauern trotzen wacker dem mörderischen Klima, die Kanonen zielen wie einst in die Ferne. Doch statt Soldaten tummeln sich heute junge Familien in dem alten Gemäuer, von dem aus man einen herrlichen Blick über die Skyline Beléms hat. Schwerbewaffnete Miliz ist nur noch auf dem mit Blumenbeeten aufgepeppten Vorplatz zu finden. Wahrscheinlich sollen die Herren in Kakigrün ein Gefühl von Sicherheit in dieser Stadt vermitteln, in der das Nachtlager der unzähligen Obdachlosen aus ein paar Schichten Pappe besteht.
Impressionen aus Belém
“Paris am Amazonas”
Beléms goldene Jahre fielen in die Zeit des Kautschukbooms zwischen 1860 und 1920. Das Naturprodukt brachte so viel Geld in die Stadt, dass man sich schon als „Paris am Amazonas“ wähnte. Die Kautschukbarone legten sich pompöse Villen im Stil der Belle Époque zu, ließen Künstler aus Italien und Frankreich antanzen, statteten ihre prächtigen Domizile mit böhmischem Glas, sächsischem Porzellan und italienischem Marmor aus. Doch der Boom war fast ebenso schnell vorüber, wie er gekommen war. Heute ist die einst gerühmte Schönheit am Rande des Urwalds nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die gefliesten Fassaden aus handbemalten Kacheln – ein Relikt der portugiesischen Kolonialzeit- werden häufig nicht mehr erneuert. Die bunten Hausanstriche verschwinden unter einer dicken schwarzen Schicht aus Ruß und Dreck. Auf Fenstersimsen und Dächern macht sich der Urwald breit. Mir blutet das Herz angesichts dieser vernachlässigten architektonischen Kleinode, die eingeklemmt zwischen monströsen Hochhaustürmen liegen.
Womöglich wäre auch das Teatro da Paz mit seinen imposanten Marmorsäulen dem Verfall preisgegeben worden, hätten sich Stadtverwaltung und private Mäzene nicht im letzten Moment auf die Rettung des neoklassizistischen Bauwerks an der Praça da Republica geeinigt. Längst nicht so berühmt wie das jüngere Opernhaus in Manaus muss sich die Spielstätte in Belém keineswegs verstecken. Spiegel und Leuchter aus venezianischem Kristall, mächtig viel Marmor, silberfarbene Beschläge auf jeder einzelnen Stufe des imposanten Treppenhauses – den Neureichen Beléms war das Beste grad gut genug. Unter prächtigen Deckengemälden, auf denen Diana, die Göttin der Jagd, Raubtieren des Regenwaldes nachstellt, lauschten sie den Klängen europäischer Künstler und Orchester und verbrachten die Pausen auf der mächtigen Terrasse. Ein eigenes Orchester hat das Teatro da Paz nicht zu bieten. Doch es wird regelmäßig für Aufführungen genutzt. Keineswegs nur für Opern von Carlos Gomez. Der Komponist wurde vom brasilianischen Kaiser gefördert und krönte in Belém sein Lebenswerk.
Beléms Markt Ver-o-Peso
So schmuck das Teatro mit seinem rostroten Anstrich ist, so bezaubernd der kleine Markt davor. Richtig warm werde ich nicht mit Belém. Auf der Avenida Presidente Vargas tobt das Leben. Hämmernde Sprachfetzen aus Lautsprechern mischen sich mit heulenden Motorengeräuschen. Die schmalen Seitenstraßen sind gepflastert mit Verkaufsständen. Die Menschen stehen klaglos bei Banken, der Post und anderen Einrichtungen an. Ich stolpere beinahe über einen der unzähligen Obdachlosen. Seine Vaterstadt sei nicht unbedingt das sicherste Pflaster für Touristen, erzählt Max, der uns mit perfektem Englisch durch das Opernhaus geführt hat. Doch unwohl, gar in Gefahr fühle ich mich zu keiner Sekunde, nicht mal auf dem Markt Ver-o-Peso, wo es am späten Vormittag nur noch eine Marschrichtung gibt: im Strom der Menschenmassen.
„Achte auf das Gewicht“ lautet die deutsche Übersetzung – wobei sich der gemeine Tourist auch vor jugendlichen Diebesbanden in Acht nehmen sollte. Der Ver-o-Peso, angeblich Südamerikas größter Markt, ist eine Stadt für sich und ein architektonisches Highlight obendrein. Die schmiedeeiserne Fischhalle mit ihren Türmchen wurde als Bausatz aus Glasgow importiert. Die gegenüberliegende Fleischhalle mit ihren feinen Ziselierungen wirkt wie ein Werk Gustav Eiffels. Zwischen der Avenida Castilho França und den milchbraunen Fluten der Baía do Guajará erstreckt sich ein Labyrinth aus Hunderten kleinen Buden, wo es alles gibt, was der Mensch so braucht: Verkaufstheken, die sich unter exotischen Früchten mit unaussprechlichen Namen biegen, modische Klamotten und hochhackige Schuhe, lebende Hühner und blitzende Kochtöpfe.
Nahe des alten Zollgebäudes, das auch schon bessere Zeiten gesehen hat, kann ich mich sogar mit geheimnisvollen Tinkturen aus dem Urwald eindecken. Die ältere Damen mit ziemlichen Lücken im Gebiss, aber reichlich Medienerfahrung hat alles Mögliche parat: das blutrote Harz des Drachenbaums bei Gastritis, die Blätter der Katzenkralle gegen Rheuma und Arthrose und ein ingwerähnliches Gewächs gegen Nierenkoliken. Bunte Verkaufsschilder werben für „Viagra Naturale“. Und selbst gegen Liebesleid scheint das passende Kräutlein im Urwald zu wachsen. Ich kaufe mir für 20 Reales eine ziemlich übel riechende crème milagroso, die bei Beschwerden des Bewegungsapparats helfen soll. Schaden wird die Kräutercreme ja nicht.
Am frühen Nachmittag vertreibt die drückende Schwüle nahezu jegliche Lust auf Unternehmungen. Schwarzgraue Wolkenberge türmen sich über der Millionenmetropole auf, verheißen die gefürchteten Sturzbäche aus Regen. Das Licht wirkt gedämpft, die kunterbunten Hausfassaden ausgewaschen. In der Basílica de Nazaré – einem strahlend weißen Gotteshaus, das nach dem Vorbild der römischen Basilika de Sao Paulo errichtet wurde – feiern gläubige Brasilianer Gottesdienst. Weniger Gläubige knüpfen Freundschaftsbänder an das Gitter vor der Kirche. Mich zieht es nach kurzer Zeit zur Estaçao das Docas, den einstigen Lagerhallen am Hafen, die mit viel Liebe und Sachverstand umgebaut wurden. Kleine Geschäfte, Restaurants, selbst eine Brauerei finden sich in dem Industriedenkmal, das ein beliebter Treffpunkt für Beléms Jugend und Junggebliebene ist. Vorausgesetzt, man kann sich den Besuch leisten.
Ruhepol der Stadt
Mir erscheint der lang gestreckte Komplex wie ein Ruhepol in einer lauten, chaotischen, hektischen Stadt, die ihre sozialen Probleme nicht verbergen kann. Gelbe Ladekräne künden von alter Zeit, eine Lokomotive steht verloren herum, und die Palmen wiegen sich im Wind. Die grauen Wolkenberge haben sich verzogen. Stattdessen leuchtet der Himmel in kräftigem Blau. Die milchbraunen Fluten klatschen gegen die Kaimauer. Ein Halbwüchsiger nimmt mutig ein Bad. Während sich die Sonne langsam am Firmament verneigt, eine Band fröhliche Melodien zur friedlichen Atmosphäre beisteuert, schließe ich Frieden mit Belém, dem Tor zum Amazonas. Meine große Liebe wird es nicht werden, doch einen Blick voller Neugier ist es allemal wert.
Wenn du wissen willst, wie die Amazonasreise weiter geht: In der nächsten Folge meines Reisetagebuchs geht es in die wunderbaren Breves-Kanäle und zur Karibik Brasiliens. Klick einfach hier. Und wenn dir dieser Beitrag gefallen hat, dann teile ihn doch einfach über deine sozialen Netzwerke. Natürlich freue ich mich auch über eure Kommentare.
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Sehr schöner Bericht! Freu mich schon auf mehr!
Liebe Grüße
Steffi
Am Wochenende geht es weiter, dann richtig Amazonas-Feeling.