Ich bin sauer! Nicht etwa, weil ich beim Einkaufen Mundschutz tragen muss, was manche Zeitgenossen schon als einen Angriff auf ihre persönliche Freiheit betrachten. Auch nicht wegen des Umstands, dass es im Viersternehotel statt eines opulenten Frühstücksbuffets nur vorgefertigte Teller gibt (was sich unter der Klarsichtfolie verbirgt, schmeckt bestens und ist deutlich abwechslungsreicher als das, was unter der Woche am heimischen Küchentisch serviert wird).
Mich nervt, dass in Corona-Zeiten ein picke-packe-voller Flieger, wo an Abstandsregeln nicht einmal im Traum zu denken ist, offenbar ungefährlicher ist als ein einsam gelegenes Ferienhaus in schwedischer Wildnis. Der Mallorca-Trip mit unvermeidlichem Körperkontakt am Strand endet anstandslos am Flughafen. Nach dem Urlaub in dem skandinavischen Land droht Quarantäne, was Berufstätige wohl eher abschrecken wird. Ich behaupte mal: Einsichtig ist diese Ungleichbehandlung nicht.
Inhaltsverzeichnis
Vom braven Bürger zum kritischen Fragesteller
Ich gehöre keineswegs zu jenen Corona-Negierern, die jede staatliche Anordnung als Ausgeburt einer Weltverschwörung betrachten. Ich reihe mich auch nicht ein in die Riege von Hobby-Virologen und Glaskugellesern, die das Virus in einem Atemzug mit einer herkömmlichen Grippe nennen. Im Gegenteil: Ich habe brav alle Einschränkungen hingenommen, auf mein geliebtes Kino verzichtet und meine Mutter nur noch telefonisch kontaktiert. Irgendwann würde dieser Spuk ja vorbei sein, so meine stille Hoffnung.
Die Macht bestimmter Branchen
Als Reisejunkie habe ich meine Hoffnungen natürlich in die Aufhebung der Reisebeschränkungen für die allermeisten EU-Länder gesetzt. Endlich mal wieder ins das Häuschen im Wald, in die Fluchtburg in Pippi Langstrumpfs Heimat Småland, weit weg von Lärm und Krach. Doch das Haus des Außenministers hält Touren nach Schweden offenbar für gefährlicher als Flugreisen ans Mittelmeer.
Was mir besonders bitter aufstößt: Die anfänglichen Pläne, für mehr Abstand im Flieger zu sorgen, entpuppten sich als Luftnummer. Denn die Airlines haben sich höchst erfolgreich gegen freie Sitze und leere Reihen gewehrt. Sonst sei der ganze Geschäftszweig unwirtschaftlich.
50 auf 100.000: Die Zahl vermiest meine Urlaubspläne
Der Grund für die weiter existierende Reisewarnung für Schweden ist eine Zahl, die zwar in Stein gemeißelt, aber eben auch ziemlich wankelmütig ist. 50 neue Corona-Infektionen je 100.000 Einwohner in einer Woche – über diesem Grenzwert lag Schweden am Stichtag deutlich, weshalb die Reisewarnung nicht aufgehoben wurde.
Theoretisch könnte ich mich morgen auf den Weg machen, in mein geliebtes Puppenstuben-Småland, weil eine Warnung ist bekanntermaßen kein Verbot. Doch ob ich danach in häusliche Quarantäne muss, ob womöglich ein negativer Corona-Test ausreicht, um die Isolation zu verhindern – diese Frage überfordert selbst das zuständige Gesundheitsamt. Es ändere sich Vieles sehr schnell: Nicht unbedingt die Antwort, die unbeschwertes Urlauben erleichtert.
Schweden und Corona – ein ziemliches Missverständnis
Ich höre sie schon, die boshaften Stimmen: Selbst schuld die Schweden, die sich harten Maßnahmen verschließen, die lustig weiter Kontakt pflegen und die Nachbarn die Drecksarbeit in Form eines Lockdowns erledigen lassen.
Um eines klar zu machen: Auch ich bin kein glühender Befürworter des schwedischen Sonderwegs, weil er auf Kosten der Alten und Schwachen in Pflegeheimen gegangen ist. Auch ich hätte mir ein gezielteres Maßnahmenpaket vor allem in den größten Städten des Landes gewünscht. Doch zahlreiche Kommentare zu meiner zweiten Heimat sind
- von einer unglaublichen Ahnungslosigkeit
- von ziemlicher Gehässigkeit geprägt.
Der Vergleich Deutschland/Schweden ist ähnlich sinnvoll wie der Vergleich von Äpfeln mit Birnen. Um das zu erkennen, reicht der Blick auf die Landkarte. Schweden bringt es auf stattliche 450.295 Quadratkilometer und hat 10.23 Millionen Einwohner. Die fast 83 Millionen Deutsche müssen sich mit rund 357.000 Quadratkilometern begnügen. Fast die Hälfte aller Schweden lebt in Stockholm, Göteborg und Malmö, wo es wie in allen Kapitalen soziale Brennpunkte gibt und entsprechend viele Corona-Fälle registriert wurden.
Viel Platz für Social Distancing
In vielen anderen Regionen des viertgrößten Landes Europas liegt sprichwörtlich der Hund begraben. In Lappland ist die Aussicht, einem Elch zu begegnen, deutlich größer als auf einen Menschen zu treffen. Hier liegt die Bevölkerungsdichte bei unter einer Person pro Quadratkilometer. Selbst der „dicht besiedelte“ Süden Schwedens würde sich prima für eine Auszeit von der gelegentlich strapaziösen Zivilisation eignen.
Beispiel Hultsfred, wo ich zwei-, dreimal im Jahr bin: eine typisch schwedische Kleinstadt auf halbem Weg zwischen Skåne und Stockholm. Das halbe Dutzend Stadtteile bringt es auf 14.000 Einwohner und verteilt sich auf 1.187 Quadratkilometer. Es gibt ein paar Supermärkte, in denen selten mehr als eine Handvoll Kunden weilen; es gibt ein paar Fressbuden mit dem Charme von Bahnhofsgaststätten, wo keiner wirklich lange bleiben will, und unzählige Seen, wo viel Platz für das eigene Handtuch ist. Die Gefahr, sich hier mit Corona anzustecken, ist nicht größer als im Landkreis Karlsruhe; von einem nordrhein-westfälischen Landkreis mit berüchtigter Wurstfabrik mal ganz zu verschweigen.
Schwedens Corona-Weg: Lieber Appelle statt Verbote
So locker, wie vielerorts zu lesen und zu hören war, ging es auch in Schweden nicht zu. Es stimmt: Kitas und Grundschulen blieben geöffnet, ebenso Läden und Restaurants. Doch Gymnasiasten wurden zum Homeschooling verdonnert. Über 70-Jährige aufgefordert, drinnen zu bleiben. Anfang März wurden zunächst alle Veranstaltungen mit mehr als 500 Personen abgesagt, später wurde dieser Wert auf 50 gesenkt. Bereits am 30. März hatte die Regierung ein nationales Besuchsverbot in Heimen eingeführt. Inzwischen wurde dies bis zum 31. August 2020 verlängert. Kino, Theater, Freizeitparks? Alles seit Monaten geschlossen, weil auch die schwedische Regierung vor nicht notwendigen Reisen warnte.
Auch Schwedens Tourismusbranche leidet
Daran hielt sich die Mehrheit der Schweden übrigens. In schwedischen Zeitungen klagten Hoteliers, Transportunternehmen und Fährgesellschaften über Umsatzeinbußen im hohen zweistelligen Bereich. Auf Gotland, das in der Hauptsaison stets früh ausgebucht ist, finden sich selbst jetzt noch freie Quartiere. Wochenlang hieß es auf der Internetseite von Destination Gotland, dass Reisende nicht wirklich erwünscht sind. Weiterhin ist die Zahl der buchbaren Sitzplätze an Bord begrenzt, um das Infektionsrisiko zu begrenzen.
Social Distancing ist in der DNA der Skandinavier verankert
Der große Unterschied: Deutschland hantiert mit Verboten; in Schweden klingt es nach freundlicher Ermahnung, weil Social Distancing ohnehin in der DNA der Skandinavier verankert ist. Seinem Strandnachbarn bis auf wenige Zentimeter auf die Pelle zu rücken, käme einem Schweden nie in den Sinn.
Dass diese Appelle an die Vernunft im Großen und Ganzen funktionieren – Schwachköpfe gibt es leider überall -, zeigte sich vor den in Schweden außerordentlich beliebten Osterferien. Die Vorstellung, dass Zehntausende Schweden in die kleinen Ski-Orte einfallen würden, entsetzte Ministerpräsident Stefan Löfven so sehr, dass er die Betreiber der Liftanlagen freundlich „ermahnte“, doch bitte den Betrieb vorzeitig einzustellen. Wenige Stunden später kam „Windstar“, der größte Ski-Anlagen-Betreiber des Landes, dieser Bitte nach. Man stelle sich einmal vor, Österreichs Bundeskanzler hätte Ischgl ähnliches verordnet.
Schwedens Corona-Hotspot heißt Stockholm
Was Schwedens Sonderweg ohne Lockdown und Ausgangssperren schonungslos offengelegt hat, ist die desolate Lage in den privatisierten Altenheimen. Zu Beginn der Corona-Pandemie fehlte einfach alles – Schutzkleidung, Masken und Desinfektionsmittel . Von den über 5.200 registrierten Covid-Todesfällen entfällt der Löwenanteil auf Heimbewohner. Fast ein Drittel aller bestätigten Infektionen – mehr als 54.000 – entfällt auf Stockholm.
Die Kurve der Todesfälle schwächt sich ab
Zur Wahrheit gehört aber auch: Seit Ende April schwächt sich die Kurve der Todesfälle in dem skandinavischen Land kontinuierlich ab. Erst vergangene Woche feierte Dagens Nyheter, eine der großen Zeitungen des Landes, den ersten Tag seit Monaten ohne weitere Corona-Opfer. Seit Mai hat sich die Situation auf den Intensivstationen entspannt, weil die Zahl schwer erkrankter Covid-19-Patienten auf unter zehn pro Tag sank. Gleichzeitig gibt es viele Patienten mit milden Krankheitsverläufen.
Schweden: ein Corona-Risikoland?
Doch wie passt das zu weiter steigenden Infektionszahlen? Ich gebe Mister Trump ja nur ungern Recht. Aber wer mehr testet, entdeckt auch mehr Infizierte. Genau dies geschieht in Schweden, wo die Tests in einer Woche von 36.600 auf 49.200 gesteigert wurden. Selbst die WHO, die Schweden wegen der Neuinfektionen als Corona-Risikoland eingestuft und vor einem Kollaps des schwedischen Gesundheitssystems gewarnt hatte, ruderte noch am selben Tag kleinlaut zurück. In Mails an schwedische Medien erkannte sie an, dass der Anstieg auf die ausgedehnten Tests seit Anfang Juni zurückzuführen sei. Der Anteil der positiven Tests liege stabil bei zwölf bis 13 Prozent.
Schweden: Europas Corona-Paria?
Auf die Karte des Robert-Koch-Institutes schlägt sich all dies nicht nieder. Dort leuchtet Schwedens Silhouette nach wie vor in einem tiefen dunkelrot und signalisiert dem Betrachter: im Land der Elche besser keinen Urlaub machen.
Dabei wäre statt des Schwarz-Weiß-Bildes eher ein Werk mit Grautönen nötig, eine gezieltere Betrachtung der einzelnen Provinzen. Tiefrot muss der Kreis um Stockholm gezogen werden, einige andere Provinzen sind gleichsam Corona-frei: In Gotland beispielsweise gab es nur 154 Infektionen.
Ja, verglichen mit Deutschland hat Schweden auf die Bevölkerungszahl gerechnet fünfmal so viele Todesfälle. Doch in Großbritannien, Spanien, Italien und Belgien liegt dieser Wert noch höher. Das geht aus Zahlen des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) hervor. Hinzu kommt:
- Traue ich den veröffentlichten Zahlen?
- Und wie steht es im Notfall mit der medizinischen Versorgung aus?
Selbst das Auswärtige Amt scheint bei einigen Nachbarn Zweifel zu haben, wenn man sich auf Zwischentöne versteht. Polen – so heißt es in den Reisehinweisen – sei von Covid-19 „weniger stark betroffen.” Dafür ist die medizinische Versorgung nur „zufriedenstellend“. Dann doch lieber eine schwedisches Gesundheitszentrum, wo ich mich auf Englisch verständigen kann.
Mein Fazit: Lieber Schweden als der überfüllte Flieger
Ein Urlaub in Schweden ist nicht gefährlicher als Ferien auf Mallorca. Wenn ich die überfüllten Ostseestrände sehe, die Besuchermassen in deutschen Innenstädten, dann sehne ich mich nach der Sicherheit eines Häuschens am See in Falu Röd oder einer Hütte auf einer einsamen Schären-Insel, wo das Konzept des Social Distancing gleichsam zum Urlaubsprogramm gehört.
Schweden erreiche ich bequem mit der Fähre. Die sind in den vergangenen Monaten wie immer gefahren, allerdings mit deutlich weniger Passagieren an Bord. Ich muss mich nicht in einen Flieger quetschen, wo ich auf Gedeih und Verderben einer hoffentlich funktionierenden Luftzirkulation und frischen Filtern vertrauen muss. Ich würde mir wünschen, dass beim Reiseziel genauer hingesehen wird, dass deutsche Behörden nicht einfach nur nach Schema F handeln. Sonst könnte man auf die Idee kommen, dass Schweden für seinen Sonderweg abgestraft werden soll.
Ich habe nach langem Nachdenken die Reise nach Schweden abgesagt. Nicht weil ich Furcht habe, mich in dem skandinavischen Land mit Corona anzustecken. Sondern weil die Unwägbarkeiten in Deutschland nach der Rückkehr einfach zu groß sind. Mal heißt es: Ich müsste auf jeden Fall in Quarantäne, mal wird mir gesagt: Es käme auf die Umstände an. Und da ich noch berufstätig bin, mag ich dieses Risiko nicht eingehen. So muss ich mich gedulden und träume weiter vom Sommer in Schweden.