Auf einen solch verrückten Namen muss ein geschäftstüchtiger Werbestratege auf der Suche nach neuen Ideen erst einmal kommen. Bumbá-meu-Boi – oder abgekürzt Boi Bumba – heißt sinngemäß „Steh auf mein Ochse“. Für Parintins – mit 110 000 Einwohnern und einer Fläche von knapp 6000 Quadratkilometer die zweitgrößte Stadt im brasilianischen Bundesstaat Amazonas – ist die so poetisch klingende Aufforderung jedenfalls bare Münze wert. Einmal im Jahr wird das verschlafene Provinznest auf einer noch verschlafeneren Amazonasinsel zur Party-Location und wird landesweit in einem Atemzug mit Rio, dem Karnevalsmekka am Atlantik genannt.
Inhaltsverzeichnis
Parintins als Party-Location
Aus allen Ecken Brasiliens strömt das partygeile Völkchen herbei, wenn am letzten Wochenende im Juni Boi Bumba gefeiert wird. Selbst ein paar Backpacker und Pauschalreisende aus good old Europe sind schon in der sonst eher tristen Stadt gesichtet worden. Auch wenn viele die Handlung der abendlichen Show nicht wirklich kapieren, die auf einer uralten Amazonaslegende beruht: Die größte, wildeste und farbenprächtigste Partyorgie am Amazonas wollen Zigtausende nicht verpassen.
Nach europäischen Maßstäben würde Jorge kaum als Sexsymbol durchgehen; die Damenwelt des Amazonas versetzt er dennoch in Entzücken. Der braune Körper schweißnass, die strammen Waden mit einem blau-türkisen Federkleid drapiert, Hals und Hüften mit einer Kette aus Furcht einflößenden Fischzähnen dekoriert ist der eher klein geratene Brasilianer der Anführer der Blauen, der Caprichosos. Die messen sich beim alljährlichen Boi Bumba-Festival mit den Roten, den Garantidos, und haben über die Jahre betrachtet knapp die Nase vorn.
Die Betonschüssel Bumbódromo
Die Kriterien des Wettstreites, der für Teilnehmer und Zuschauer gleichermaßen mit einem ordentlichen Caipirinha-Rausch endet, sind schnell aufgelistet: Wer bringt die beste Choreografie auf die Bühne des Bumbódromo – der ziemlich heruntergekommenen Betonschüssel, die Ende der 80er-Jahre eigens für das Festival errichtet worden ist? Wer schickt die knackigsten Buben und Mädels ins Rennen? Wer schwingt am schwungvollsten die üppigen Rundungen, die in glitzernden BHs und superknappen Hotpants stecken? Wer hat die gigantischen Pappmascheefiguren heil über die regenreichen Monate gebracht?
In Parintins hält sich der Anteil der einzelnen Fangruppen ziemlich die Waage. „Ich war schon immer ein blauer“, erzählt Manuel, der den Abstecher auf das eher triste Probengelände der „Caprichoso“ organisiert hat. „Doch an Boi Bumba gibt es nur noch Freund oder Feind. Dann ist die ganze Stadt in rot und blau geteilt.“ Selbst das Coca-Cola-Logo muss sich farblich anpassen.
Warten auf die Boi Bumba-Orgie
Für die Caboclos, wie sich die Nachfahren der Ureinwohner und der europäischen Eroberer nennen, fallen während dieses karnevalistischen Straßenkampfes Ostern und Weihnachten zusammen. Den Rest des Jahres verharren sie im Dämmerzustand, im Warten auf die nächste Bui Bumba-Orgie mit ihrem Stilmix aus Oper und Musical, Schlager und Folklore. Parintins unterscheidet sich nämlich kaum von den anderen brasilianischen Städten am Amazonas: es ist laut – wegen der frisierten Motorräder; es ist ärmlich – weil im bitterarmen Amazonien ohnehin die wenigsten Arbeit haben; es wirkt heruntergekommen – weil dem mörderischen Klima aus Hitze und Tropengewitter kaum ein Hausanstrich standhalt.
Am Denkmal, das Szenen aus dem Alltags der Fluss-Menschen in Gegenwart und Vergangenheit präsentiert, bröckelt der Putz. In den tiefen Abwasserrinnen neben den Bürgersteigen stapelt sich der Müll. In der Kirche Nossa Senhora do Carmo, die auf einem trostlos leeren Platz thront, herrscht zumindest ein wenig Lebendigkeit – weil sich laut zirpende Vögel im Dach des Kirchenschiffes eingenistet haben.
Das Leben tobt höchstens im Hafen am großen Strom, dessen Farbe mich unweigerlich an Milchkaffee erinnert. Mehrmals täglich legen die knallig-bunten Doppeldeckerschiffe an, die zwischen Belém nach Manaus verkehren. Alle paar Monate taucht ein Kreuzfahrt-Pott vor Parintins auf, um ein paar Hundert Touristen auf einmal ausspucken. In Windeseile schlagen geschäftige Brasilianerinnen ein paar Verkaufsstände auf, um Schmuck, Handtaschen und Piranha-Skulpturen an Souvenirjäger zu verscherbeln. Die Gatten hübschen dreirädrige Rikschas mit Girlanden und Blumen auf, um Fußfaule durch das Geviert aus Straßen und Gassen zu kutschieren. Wie ein Lindwurm bewegt sich die Rad-Kolonne durch Parintins, mal nebeneinander, mal hintereinander, stets auf Vorfahrt bedacht – mit schwitzenden, filmenden und fotografierenden Touristen als Galionsfigur.
Irgendwann landen alle auf dem Übungsgelände der Caprichosos, bei stimmungsförderndem Caipirinha und heißen brasilianischen Rhythmen. Denn schon Monate vor Boi Bumba werden die Grundlagen für den ersehnten Sieg gelegt. Eine ganze Armada aus Tänzern übt Stunde um Stunde die synchronen Schritte. Altertümliche Nähmaschinen erschaffen die fantasievollen Kostüme mit viel Glitzer und noch mehr Federschmuck. Und natürlich bekommt die wichtigste Figuren des archaischsten, abgefahrensten Festes ganz Brasiliens ein Facelifting: Boi, der schwarze Ochse aus Pappmaché mit dem blauen Stern auf der Stirn. Wenn im Juni die Partyjünger über Parintins hereinbrechen und Trommelgruppen in Kompaniestärke eine Vorahnung von dem ausschweifenden Budenzauber im Bumbódromo geben, schlüpft ein echter Caboclo in die jetzt leblose Hülle.
Die Legende vom tanzenden Ochsen soll bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Der Frau eines Plantagenarbeiters gelüstete es während ihrer Schwangerschaft nach Ochsenzunge. Natürlich lässt sich der geliebte Gatte nicht lange bitten und serviert der Gemahlin die gewünschte Speise – sehr zum Ärger des Plantagenbesitzers. Am Ende braucht es allerlei Beschwörungen von Priestern und Schamanen, um den Ochsen dem Totenreich zu entreißen. Alles ist gut, alle sind glücklich. Grund genug ein rauschendes Fest aus Farbe und Musik zu feiern.
Tanzeinlage der Boi Bumba-Akteure
Liegt es an der Lufttemperatur von 30 Grad, die im schwül-heißen Amazonasklima schon mal als 45 Grad empfunden wird? Oder an den schäbigen Kulissen auf dem Übungsgelände, an die schon lange keiner Hand anlegte? So sehr sich Jorge und seine Mannen bei der Tanzeinlage auch mühen, so typisch brasilianisch die Klänge aus dem krächzenden Kassettenrekorder auch klingen – rechte Begeisterung will sich bei mir nicht einstellen. Schon gar nicht der Wunsch wiederzukommen an diesen schmucklosen Ort. Parintins eine zweite Chance zu geben, um sich als orgiastische Karnevalsversion am Amazonas zu präsentieren, wird wohl am langen Weg scheitern. Wahrscheinlich braucht es das ohrenbetäubende Gebrüll auf den Rängen des Bumbódromo, die Salven der Trommler, die die tropische Nacht zerreißen, die Legionen an Tänzern in barocken, wilden, martialischen Kostümen, um zum Hardcore-Fan des Boi Bumba- Festivals zu werden. Mir bleiben nur die Erzählungen von jenen drei Tagen im Juni, wenn Parintins aus seinem Dornröschenschlaf erwacht.
Falls ihr schon einmal Boi Bumba in Parintins besucht habt, erzählt mir doch von euren Erfahrungen. Und wenn euch dieser Artikel gefallen hat, dann teilt ihn doch auf euren sozialen Netzwerken.