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Reisen verändert: im Denken und im praktischen Leben

Reisen macht einen bescheiden. Man erkennt, welch kleinen Platz man in der Welt besetzt.“-Gustave Flaubert

Natürlich habe ich die Worte des französischen Schriftstellers nicht gekannt, als ich vor über 40 Jahren vom Reisevirus infiziert wurde. Dem aufmüpfigen Teenager, der Familienreisen überdrüssig war und dem Europa wie ein geöffnetes Buch erschien, wuchsen buchstäblich Flügel beim Gedanken, Frankreich, Spanien und den Rest der Welt zu erobern. Raus aus dem familiären Schutzkokon, aus der Enge des Dorfes, das etwas Spießiges, Miefiges an sich hatte – das fiel mir leicht, auch wenn die erste Reise ohne Aufsicht der Eltern keine zweihundert Kilometer weit weg führte: ins nahe Saarland. Nicht gerade der Inbegriff für fremde Kulturen, neue Erfahrungen, überschäumende Exotik.

Die unvergessliche erste Reise

So verrückt es klingen mag: Ich kann mich an jene zwei Wochen in einem Jugendlager in Weiskirchen besser erinnern, als an viele nachfolgende Reisen, von denen es -berufsbedingt-unzählige gab. Vielleicht weil jedem Anfang ein besonderer Zauber inne wohnt, weil die Wanderungen und Schnitzeljagden in saarländischen Gefilden einen Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt markierten und das Weiskirchener Happening nur der Auftakt für weitere Entdeckungen war: So genau weiß ich es nicht, warum sich jener Aufenthalt so tief in mein Gedächtnis eingegraben hat.

Glückliche Momente und tiefe Verzweiflung

Reisen hat mein Leben verändert. Es hat mir unglaublich viele glückliche Momente beschert. Es hat mich zu Tränen gerührt, mich in pure Begeisterung und tiefste Verzweiflung gestürzt. Es hat mir die Chancen eröffnet, Menschen kennenzulernen, die ich sonst niemals getroffen hätte; es hat mir Kulturen näher gebracht, die ich nicht einmal aus Schulbüchern kannte. Reisen bedeutet für mich Passion, eine, die auch schmerzhaft sein kann und die mich mit fortschreitendem Alter und wachsenden Wissen um Zusammenhänge manchmal ratlos zurücklässt.

Denn guten Gewissens zu reisen, fällt mir heute wesentlich schwerer als vor 40 Jahren. Damals dachte man nicht mal im Traum an „Fliegen zu Taxipreisen“; damals waren Neuseeland oder Australien fast so weit entfernt wie der Mond; damals war Interrail für einen reiselustigen Teenager kurz vor der Volljährigkeit das Synonym für Glück.

Der erste Flug: Ibiza ruft

Als ich zum ersten Mal ein Flugzeug bestieg, mit Ziel Ibiza, habe ich bestimmt keinen Gedanken an CO2-Ausstoß, Klimaerwärmung oder Kompensation bei Atmosfair verschwendet. Warum auch? Reisen, zumal mit dem Flugzeug, war etwas Besonderes, ein einmaliges Ereignis im Jahreskalender, ein unglaubliches Ziel, auf das man monatelang sparte. Zum Kaffeetrinken nach Malle zu jetten, Last minute eine Städtereise zu buchen oder ein halbes Dutzend Länder in einem Jahr abzuklappern, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Wer konnte schon ahnen, wie schnell sich Reisegewohnheiten ändern würden?

Sie verstauben in der heimischen Schrankwand: die Reisesouvenirs.

Reisen als Tapetenwechsel

Für mich hat Reisen seinen Nimbus verloren. Beim Gedanke daran werden keine Fluten von Glückshormonen ausgeschüttet, es schleicht sich nicht mehr jener besondere Glanz in die Augen ein. Das ist einerseits bedauerlich, andererseits auch hilfreich. Denn Reisen an sich ist kein Glücksbringer, keine Kompensation für einen ansonsten langweiligen Alltag. Es ist allenfalls ein Tapetenwechsel, dessen Wirkung niemals auf Dauer ist. Und wer auf ständigen Tapetenwechsel angewiesen ist, sollte sich sein Heim genauer anschauen. Wer mit dem nicht zufrieden ist, wird auch auf Reisen kein Glück finden.

Die Sicht auf die Welt verändert

Weshalb ich Reisen dennoch liebe? Es hat meine Sicht auf die Welt verändert, auf mein eigenes Leben, auf mein privilegiertes Dasein, das mir ohne mein Zutun in die Wiege gelegt wurde. Als ich in den 80er Jahren nach Ibiza geflogen bin, war ich eine jener Touristinnen, für die ich heute wenig Verständnis aufbringen kann. Von der Insel, ihrer landschaftlichen Schönheit, ihren Menschen habe ich nämlich so gut wie nichts gesehen. Strand, Disco, Hotel – in diesem Dreieck spielte sich der Urlaub ab.

Die beiden letzteren Punkte hätte ich auch in Wanne-Eickel haben können, und der Erkenntnisgewinn wäre auch nicht kleiner ausgefallen. Heute ist diese Art des Reisen, dieses bewusste Negieren des Reiseziels der absolute Horror für mich – weil es den Satz “Reisen bildet” als frommen Wunsch entlarvt.
Zum Glück habe ich dieses Ignoranten-Stadium schnell verlassen und unbewusst Mark Twains Einschätzung übernommen:

Reisen ist tödlich für Vorurteile

glaubte der Weitgereiste und ich gebe ihm Recht. Was ich in 40 Jahren Reisen glücklicherweise verloren habe? Diese arrogante Selbstüberschätzung, die so viele in der ersten Welt pflegen! Diese unausgesprochene, und doch stets spürbare Überheblichkeit ärmeren Ländern mit ihren Menschen gegenüber! Dieses gnädige Herabschauen!

Landkarten, Postkarten und Fotografien: Sie erinnern an die wochenlange Reise per Zug durch Indien.

Weckruf in Indien

Ich erinnere mich noch gut an meine erste Reise durch Indien, einen Subkontinent, den ich damals für unzivilisiert, unterentwickelt, unzeitgemäß hielt. Und dann stand ich ungläubig staunend in Fatehpur Sikri, der Geisterstadt des Großmoguls, bewunderte die karminroten Paläste mit spinnwebenfein gemeißelten Fenstern, durch die der Wind pfiff, und war geblendet von dieser untergegangenen Metropole, die die figurative Architektur der Hindus und die geometrische des Islam vereinigte und dabei in puncto Komfort fast so modern wie eine Stadt des 20. Jahrhunderts war. Wohlgemerkt im 16. Jahrhundert!

Reisen macht demütig

Indien machte mich demütig. Das riesige Land, in dem tiefstes Mittelalter und hypermoderne Zukunft direkt nebeneinander liegen, zeigte mir, dass Erfolg, Status, Rang nicht in Stein gemeißelt sind. Wer heute der Ersten Welt angehört, kann morgen schon zur dritten gehören. Wenn ich durch Afrika oder Asien reise, wenn ich mit Indianern durch den Amazonas- Regenwald streife oder mich bei Indio-Familien in Peru einquartiere, sehe ich nicht die Armut, die einfachen Lebensverhältnissen dieser Menschen, sondern deren Überlebensqualitäten in einer Umwelt, in der ich kaum bestehen würde.

Achtung vor dem Fremden, vor der Lebensleistung dieser Menschen ist etwas, was ich bei Reisen gelernt habe und wofür ich dankbar sind. Es hat mir die Augen geöffnet, was wirklich wichtig ist: dass Zufriedenheit nicht von der Höhe des eigenen Kontos abhängt. Im Gegenteil: Den glücklichsten Menschen bin ich nicht etwa in Europa oder Amerika begegnet, sondern in kleinen afrikanischen Dörfern, auf winzigen Inseln im weiten Pazifik, in den Reisfeldern Asiens. Hier gibt es sie, die Menschen mit strahlenden Augen, die sich über ein freundliches Zunicken noch vor Herzen freuen.

Beglückend und beschämend zugleich

Reisen ist beglückend und beschämend zugleich. Einerseits ist da noch immer dieser bohrende Wunsch, in die Fremde zu ziehen, um den eigenen Horizont zu erweitern, Neues zu entdecken, die eigenen Werte zu überprüfen. Andererseits: Darf ich mich einfach gedankenlos auf den Weg machen, angesichts der Tatsache, welche Mengen klimaschädlicher Treibhausgase bei einem einzigen Flug freigesetzt werden? Wer schaudernd die sich zurückziehenden Gletscherkanten in Grönland gesehen hat, wer mit Chilenen über sich abzeichnende Wasserknappheit diskutiert hat, kann nicht einfach die Augen vor den Folgen des weltweiten Tourismus schließen.

Das Gebot der Stunde lautet: weniger, nicht mehr und wenn möglich, nach Alternativen suchen. Doch auch Bahn, Bus und meine heiß geliebten Fähren hinterlassen einen ökologischen Fußabdruck.

Weniger ist mehr: So lautet das Gebot der Stunde, wenn es ums reisen geht.

Die ökologischen Aspekte des Reisens

Es gibt zu wenige, die sich um die ökologischen Aspekte des Reisens kümmern. Zu viele, für die die schönsten Wochen des Jahres eine Art Statussymbol sind – getreu dem Motto, Mein Haus, mein SUV, meine Fernreise. Ich werde niemals jene ältere Dame vergessen, der ich auf einer Rundreise durch Kolumbien begegnet bin. Auf meine Frage, warum sie sich ausgerechnet dieses eher unruhige Land ausgesucht habe, antwortete sie mir ernsthaft: Sie habe zu Hause eine Landkarte mit Fähnchen für die besuchten Länden – und Kolumbien habe noch gefehlt.

Wenn Reisen seinen tieferen Sinn verliert

Nu rein Einzelfall völliger Ignoranz? Ich glaube es leider nicht. Die Horden begeisterter All-inclusive-Urlauber, die in zwei Wochen Dominikanische Republik nur das Flaschenheer der Poolbar sehen, sprechen eine andere Sprache, ebenso die Studienreisenden, die sich über heftige Regenfälle im Regenwald beschweren. Reisen, einst als Mittel zur Völkerverständigung gepriesen, verliert so seinen tieferen Sinn. Wenn einem das Fremde nur ja nicht zu nahe kommen soll und nur die eigenen Vorurteile gefüttert werden.

In der Heimat angekommen

Ich musste hinaus in die Welt, um die Nähe schätzen zu lernen. Heimweh? Was für ein überflüssiges Gefühl? Wieder ankommen nach langer Fahrt? Nur sinnvoll, weil schon die nächste Planung bevorstand. So dachte ich einst. Längst habe Ich mich aus diesem Kreislauf des ewigen Kofferpackens verabschiedet. Heute reise ich gezielter, besser vorbereitet und freue mich aus tiefstem Herzen, wenn meine Füße danach wieder heimische Erde berühren. Ich habe gelernt, dass es keine fernen Gestaden braucht, um die eigene Lebendigkeit zu spüren. Eine Radtour durch blühende Felder, eine Wanderung durch duftenden Wald tut es ebenso. Und zur Not gibt es ja noch jene kleine Fluchtburg im Herzen Schwedens, wo Alltag und Urlaub ein und dasselbe sind.

Warum ich mir diese Gedanken gemacht habe? Sabine von Ferngeweht hat zur Blogparade “Reisen verändert” aufgerufen. Dort gibt es noch viele andere, sehr unterschiedliche Beiträge zu dem Thema. Schau einfach mal vorbei.

Roswitha:
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